Brüssel. EU-Parlamentspräsident David Sassoli über rote Linien beim Brexit, Gefahren des Klimaschutzes und Erwartungen an Ursula von der Leyen.

Er ist Nachfolger von Antonio Tajani und Martin Schulz an der Spitze des Europäischen Parlaments – und bildet mit Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen und Ratspräsident Charles Michel das neue Spitzentrio der Europäischen Union. Der Italiener David Sassoli weiß, wie schwer sein Start wird.

Herr Präsident, das neue Jahr beginnt mit dem Austritt Großbritanniens aus der Europäischen Union. Wie groß wird der Schaden für die Menschen in Europa sein?

David Sassoli: Wir haben mit dem vorliegenden Abkommen alles getan, um den Schaden so gering wie möglich zu halten. Aber der Brexit ist und bleibt unheimlich schmerzlich. Für Menschen meiner Generation, die den Fall der Berliner Mauer miterlebt und geglaubt haben, dass dieser Prozess der europäischen Einigung sich quasi schicksalhaft fortsetzt, ist es tragisch zu sehen, dass nun neue Mauern hochgezogen werden. Wir wollten, dass Großbritannien bleibt, aber die Mehrheit der britischen Wähler hat anders entschieden und das respektieren wir.

Wie geht die Brexit-Abstimmung im Europaparlament aus?

Sassoli: Anders als auf britischer Seite war das Europaparlament von Anfang voll in den Prozess eingebunden und hatte eindeutige Positionen, die von dem Team um Michel Barnier konsequent in die Verhandlungen eingebracht wurden. Uns ging es vor allem darum, die Rechte der Bürgerinnen und Bürger zu schützen und eine harte Grenze in Nordirland zu verhindern und somit den Frieden zu sichern. Das Austrittsabkommen spiegelt diese Prioritäten des Europaparlaments klar wider, daher bin ich überzeugt, dass es nach dem Okay im britischen Unterhaus auch im Januar vom Europaparlament gebilligt wird.

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    Wie wollen Sie sicherstellen, dass die Briten gute Nachbarn bleiben?

    Sassoli: Wir haben immer gesagt, dass wir künftig so eng wie möglich mit dem Vereinigten Königreich kooperieren wollen. Ich glaube, wenn sich der Staub erst einmal legt und die nächste Phase der Verhandlungen beginnt, werden beide Seiten realisieren, dass wir weiterhin viele Werte teilen und gemeinsame Interessen haben. Wie genau unsere Beziehung letztlich aussieht, hängt stark von der britischen Regierung ab. Klar ist, dass die Vorteile der EU-Mitgliedschaft nicht von außen zu haben sind. Ebenso wenig werden wir ein Arrangement zulassen, bei dem Großbritannien vollen Zugang zum Binnenmarkt hätte, aber zugleich die hohen sozialen, arbeitsrechtlichen und ökologischen Standards unterwandern könnte.

    Können Sie sich vorstellen, dass die Briten den Brexit irgendwann rückgängig machen?

    Sassoli: Ich denke, dass sich diese Frage nach der jüngsten Wahl für die absehbare Zukunft erledigt hat. Damit werden sich vermutlich künftige Generationen befassen.

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    Deutschland wird im zweiten Halbjahr die Ratspräsidentschaft der Europäischen Union übernehmen. Was muss Angela Merkel und ihrer Regierung unbedingt gelingen?

    Sassoli: Der mehrjährige Finanzrahmen wird hoffentlich schon im ersten Halbjahr während der kroatischen Ratspräsidentschaft beschlossen. Dann kann Deutschland darauf aufbauen und wichtige Weichen für die noch junge Legislaturperiode stellen, etwa was den Klimaschutz und mögliche institutionelle Reformen angeht. Auch die Beziehungen mit strategischen Partnern der EU werden eine zentrale Rolle spielen, schließlich fallen die EU-Gipfel mit China und Afrika in den Zeitraum der deutschen Ratspräsidentschaft.

    Ist es Fluch oder Segen für Europa, dass die neue Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen aus dem mächtigsten Mitgliedsland stammt?

    Sassoli: Per se ist es weder das eine noch das andere, und ich wünsche mir, dass wir von dem Denken in nationalen Kategorien wegkommen. Das bringt uns nicht voran. Ich habe Frau von der Leyen als überzeugte Europäerin kennengelernt und unsere Zusammenarbeit funktioniert bisher sehr gut, das haben die Anhörungen der Kommissare im Europaparlament gezeigt. Frau von der Leyen hat uns zugehört und viele unserer Vorschläge aufgegriffen. Die Kommission, die wir nun haben, trägt auch die Handschrift des Parlaments.

    Trauen Sie von der Leyen zu, Europa – um eine Formulierung ihres Vorgängers Jean-Claude Juncker zu verwenden – „weltpolitikfähig“ zu machen?

    Sassoli: Das Ziel ist goldrichtig – ob wir es erreichen, hängt allerdings wie so vieles auch am Willen der Mitgliedstaaten. Klar ist: Angesichts der Abkehr vom Multilateralismus und der regelbasierten Ordnung, die die USA unter Trump vollzogen haben, muss die EU endlich noch stärker als bisher global Verantwortung übernehmen.

    Was gehört für Sie zur Weltpolitikfähigkeit?

    Sassoli: Der Bereich Sicherheit und Verteidigung spielt natürlich eine zentrale Rolle, daher ist es gut, dass von der Leyen die Verteidigungsunion zu ihren Prioritäten erklärt hat. Um in der Außen- und Sicherheitspolitik effektiver zu werden, müssen wir vom Einstimmigkeitsprinzip weg. Aber Weltpolitikfähigkeit hört nicht bei sicherheits- oder geopolitischen Fragen auf, es geht auch um den Schutz des Klimas oder der Menschenrechte. Hier haben wir schon lange eine Führungsrolle eingenommen, die wir behaupten und ausbauen müssen.

    Von der Leyen will Europa bis 2050 zu einem klimaneutralen Kontinent machen. Wie ist das zu schaffen?

    Sassoli: Dass die neue Kommission keine zwei Wochen nach Amtsantritt ihren Fahrplan für den europäischen Green Deal vorlegt, ist ein starkes Zeichen. Jetzt müssen wir rasch Taten folgen lassen, unter anderem unser Ziel zur Reduktion von Treibhausgasemissionen für 2030 auf 55 Prozent hochschrauben. Nicht zuletzt wird der Erfolg davon abhängen, ob es uns gelingt, das Ziel der Klimaneutralität als Chance zu begreifen für Innovation und Wachstum, neue Jobs, ein gesünderes Leben – und vor allem, ob wir es schaffen, diesen Übergang gerecht zu gestalten.

    Sehen Sie die Gefahr, die Menschen mit Klima-Vorgaben zu überfordern?

    Sassoli: Das wäre ebenso fatal wie nichts zu tun. Ein Klimaschutz, der zum Beispiel die Menschen in den von Kohle abhängigen Regionen alleinlässt, birgt enormen sozialen Sprengstoff und wird nicht wirklich erfolgreich sein. Wir begrüßen, dass die EU-Kommission, wie von uns gefordert, einen Fonds für den gerechten Übergang vorsieht. Aber da sind wir beim Budget: Die Mittel hierfür müssen bereitgestellt werden.

    Was nutzt eine europäische Vorreiterrolle, wenn der Rest der Welt nicht mitzieht?

    Sassoli: Wir können die Welt nicht im Alleingang retten. Aber es bleibt uns nichts anderes übrig als voranzugehen und daran zu arbeiten, dass andere mitziehen. Natürlich haben wir Instrumente, um positiven Einfluss zu nehmen, etwa in der Handelspolitik. Unser Ziel muss es vor allem sein, anderen vorzuleben, dass der europäische Weg nicht nur zu mehr Klimaschutz führt, sondern viele weitere Vorteile bringt, etwa in Sachen Innovation oder Energieunabhängigkeit. Klimaschutz muss attraktiv werden. Länder wie China, die strategisch planen, beobachten uns da sehr interessiert.

    Signor Sassoli, was setzen Sie sich selbst zum Ziel? Was soll man am Ende Ihrer Amtszeit über Sie sagen können?

    Sassoli: Die Bürger haben im vergangenen Mai den nationalistischen und populistischen Rattenfängern getrotzt, aber auch deutlich gemacht, dass sie eine andere, eine bessere EU wollen. Daran will ich mit aller Kraft arbeiten.