London/Belfast. Der Brexit ist beschlossen und Nordirland könnte zurück ins Chaos stürzen. Denn die Unterhauswahlen haben die Nationalisten beflügelt.

Eine fast acht Meter hohe dunkelgrüne Mauer ragt im Westen der nordirischen Hauptstadt Belfast in die Höhe. Sie trennt das dicht besiedelte Arbeiterviertel an der Falls Road, in der pro-irische Katholiken leben, von der Shankill Road, der Hochburg der pro-britischen Protestanten.

Die monströse Sperranlage sieht aus wie eine Grenzbefestigung: Ihr Fundament bilden drei Meter hohe Betonblöcke, auf denen eine zwei Meter hohe Barriere aus dicken Stahlplatten sitzt. Auf diese wurde irgendwann noch ein rund drei Meter hoher Metallzaun gesetzt. Er soll verhindern, dass Angreifer Brandsätze oder Steine auf die andere Seite werfen.

Nordirland-Konflikt: Trügerischer Frieden

Befragt man die Menschen auf beiden Seiten der sogenannten Friedensmauer, dann antworten die meisten, die Anlage solle ruhig da bleiben, wo sie ist. 20 Jahre, nachdem das Karfreitagsfriedensabkommen den blutigen Nordirland-Konflikt formell beendet hat, sitzt das Misstrauen zwischen den zerstrittenen Bevölkerungsgruppen weiter tief.

Dabei ist in den vergangenen 20 Jahren ein weitgehend stabiler Frieden in die Unruheregion eingekehrt. Die EU-Mitgliedschaft Großbritanniens und Irlands hat dazu wesentlich beigetragen: Die Zollunion und der EU-Binnenmarkt haben in den 1990er-Jahren die einst militärisch befestigte Grenze zwischen beiden Landesteilen verschwinden lassen.

Das Friedensabkommen erlaubte es den Nordiren zudem, einen britischen oder irischen Pass zu haben oder beide. Wer wollte, konnte die britische Oberhoheit über den Norden als Nebensächlichkeit abtun. Im Alltag erschien Irland in vielerlei Hinsicht wie eine vereinte Insel.

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    Status quo droht zu kippen

    Die meisten pro-irischen Nationalisten wie auch der Großteil der pro-britischen Unionisten konnten sich damit offenbar arrangieren. Doch der Brexit hat diese bewusste Mehrdeutigkeit auf einen Schlag zunichtegemacht – und gefährdet unter Umständen auch den Frieden.

    Der Status quo wird sich nach dem Brexit nicht länger aufrechterhalten lassen. Denn Boris Johnson peilt einen relativ harten Brexit an. Das Vereinigte Königreich soll heraus aus dem Binnenmarkt und der Zollunion.

    In der Praxis bedeutet das, dass es nach dem Brexit entweder wieder eine harte Grenze zwischen dem Nord- und Südteil Irlands geben wird – für viele Nationalisten ein rotes Tuch. Oder aber es wird eine Zollgrenze in der Irischen See geben – was für viele Unionisten inakzeptabel wäre. Im Moment läuft es auf die zweite Variante hinaus. Viele Unionisten fühlen sich deswegen von London im Stich gelassen.

    Unterhauswahlen: DUP und Sinn Féin abgestraft

    Dass Bewegung in die Dinge gekommen ist, zeigte sich bei den kürzlichen Unterhauswahlen. Dabei gewannen nationalistische Abgeordnete zum ersten Mal mehr Sitze im Parlament in London als Unionisten. Mehr noch: Eine Umfrage kam vor einigen Wochen zu dem Schluss, dass sich mittlerweile eine knappe Mehrheit der Nordiren für eine Wiedervereinigung mit der Repu­blik Irland ausspricht.

    Wie einst im geteilten Berlin: „Sie betreten den freien Teil von Derry“.
    Wie einst im geteilten Berlin: „Sie betreten den freien Teil von Derry“. © picture alliance/dpa | dpa Picture-Alliance / Jonathan Porter/PressEye

    Sieht man sich die Ergebnisse der Unterhauswahlen genauer an, wird das Bild jedoch vielschichtiger. Denn dabei haben die Wählerinnen und Wähler sowohl die größte unionistische Partei abgestraft – die Democratic Unionist Party (DUP) – als auch Sinn Féin, die größte nationalistische Partei.

    Retourkutsche hat lokalpolitische Gründe

    Sieger waren die moderat nationalistische SDLP-Partei, die drei Sitze gewann und die auch mit einer fortgesetzten britischen Oberhoheit leben könnte, sowie die ausdrücklich nicht sektiererische Alliance Party. Diese gewann wegen des Mehrheitswahlrechts zwar nur einen Sitz, kam aber auf fast 17 Prozent der Stimmen in der Region. Das ist ein klares Signal dafür, dass sich immer mehr Nordiren von der sektiererischen Vergangenheit wegbewegen.

    Die Retourkutsche für die DUP und für Sinn Féin hat auch lokalpolitische Gründe: Da sich die Führungen beider Parteien zerstritten haben, gibt es in Nordirland seit Anfang 2017 keine funktionierende Regionalregierung mehr. Gemäß dem Friedensabkommen sind in der Region Einheitsregierungen aus Unionisten und Nationalisten vorgeschrieben.

    Steigt eine Seite aus, funktioniert das politische System auf einen Schlag nicht mehr. Die öffentlichen Dienste arbeiten seitdem nur eingeschränkt, im Gesundheitssystem kommt es zu schweren Engpässen. Vielen Nordiren geht das politische Hickhack auf die Nerven – was sich auch im Wahlergebnis niedergeschlagen hat.

    Gewalt trotz Friedensabkommen

    Nichtsdestotrotz haben sowohl der Brexit als auch das Ergebnis der Unterhauswahlen die Nationalisten beflügelt. Und so erklärte Sinn Féin schon kurz nach der Verkündung der Ergebnisse der Unterhauswahlen, dass es ein Referendum über eine Wiedervereinigung geben müsse. Das ist nicht ohne Risiko. Denn frei von politischer Gewalt ist die Region trotz des Friedensabkommens nicht.

    Immer wieder kommt es zu kleineren Bombenanschlägen, die meist von nationalistischen Gruppen verübt werden. Im April erschossen nationalistische „Dissidenten“ offenbar aus Versehen in der Stadt Derry bei Unruhen die Journalistin Lyra McKee. Es ist gut vorstellbar, dass in Zukunft auch militante Unionisten wieder Gewaltakte verüben könnten, um eine Wiedervereinigung der Region mit der Republik Irland zu verhindern.

    Plan für Referendum einer irischen Wiedervereinigung

    Doch in diese Richtung scheint sich die Region zu bewegen. „Der Brexit hat die Debatte in Nordirland vollkommen verwandelt“, sagte der irische Politologe Daniel Keohane in einem Gespräch mit der „New York Times“. „Vor dem Brexit hat niemand ernsthaft daran geglaubt, dass es bald ein vereinigtes Irland geben würde.“ Jetzt sei das „eine sehr reale Aussicht“.

    Colin Harvey, Professor für Rechtswissenschaften an der Queen’s University in Belfast, schlug kürzlich vor, im Mai 2023 ein Referendum über eine irische Wiedervereinigung abzuhalten. Genau 25 Jahre, nachdem die Iren in einem Referendum für das Karfreitagsfriedensabkommen gestimmt haben.

    Dieser Zeitrahmen würde es beiden Regierungen – in Belfast und in Dublin – erlauben, „die erforderlichen Vorkehrungen zu treffen“, sagte Harvey. Mit genügend Vorlauf und angemessenen Vorbereitungen sollte das auch „niemanden provozieren“, fügte der Professor hinzu. So oder so dürften viele Bewohner Belfasts dann froh sein, dass die Mauern aus den Zeiten des Konflikts noch stehen.