An Rhein und Ruhr. Knapp neun Prozent aller Berufstätigen in NRW sind armutsgefährdet – 772.000 erhalten einen Niedriglohn. Experten fordern Umdenken der Politik.

Knapp neun Prozent der Berufstätigen in NRW sind von Armut bedroht. Trotz Arbeit zählen 762.000 Erwerbstätige zur „Working poor“ (zu deutsch: Erwerbsarmut), wie der aktuelle Arbeitslosenreport der Freien Wohlfahrtspflege NRW ergab. Der Sozialverband VdK ist für eine Steigerung des Mindestlohns. Die Arbeitsstunden pro Jahr sowie die Zahl der Tarifverträge müssten erhöht werden, fordert Arbeitssoziologe Prof. Dr. Gerhard Bosch von der Uni Duisburg/Essen.

Als „besonders erschreckend“ bezeichnet die Freie Wohlfahrtspflege NRW, dass 17 Prozent der Vollzeitbeschäftigten (knapp 772.000 Menschen) in dem einwohnerstärksten Bundesland nur einen Niedriglohn erhielten. Unter den Frauen ist jede vierte betroffen. Bei mehr als 279.000 Menschen in NRW ist das Einkommen dem Bericht zufolge so niedrig, dass es nicht zur Sicherung des Existenzminimums reicht. Sie sind als Aufstocker auf Hartz-IV-Leistungen angewiesen, darunter 30.000 Vollzeit-Erwerbstätige. Als armutsgefährdet gilt, wer weniger als 1.035 Euro pro Monat verdient.

Experte: Hartz IV hat langfristige Weiterbildung blockiert

„Wir brauchen neue Strategien zur Überwindung von Armut“, forderte der Vorsitzende der Freien Wohlfahrtspflege NRW, Christian Heine-Göttelmann. So brauche es etwa in Jobcentern mehr langfristige Qualifizierungsangebote, um arbeitslosen Menschen einen Ausstieg aus prekärer Beschäftigung zu ermöglichen.

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Die Hartz-IV-Gesetzgebung habe die langfristige Weiterbildung blockiert, meint Arbeitssoziologe Bosch. Bundesarbeitsminister Hubertus Heil (SPD) gehe mit seinem „Arbeit von morgen“-Gesetz eine Kurskorrektur an. „Das halte ich für richtig, aber noch für zu zaghaft“, sagt er. Außerdem müsse in den Biografien früher angesetzt werden. „Wir müssen verhindern, dass 20 Prozent der Jugendlichen die Schule ohne Abschluss verlässt.“ Nur für 12 Prozent gebe es Arbeitsplätze, die für Unqualifizierte geeignet seien.

VdK: Mindestlohn soll mindestens 12,80 Euro betragen

Zudem müsse der Mindestlohn angehoben werden. „Zwölf Euro sind für ungelernte Arbeitnehmer gut, für Qualifizierte nicht“, sagt Bosch. Der VdK-Vorsitzende in NRW, Horst Vöge, fordert eine Anhebung auf mindestens 12,80 Euro.

Weiterer Vorschlag zur Armutsbekämpfung: Die Arbeitsstunden im prekären Bereich sollten erhöht werden, so Bosch. Während Gutverdiener 3000 Arbeitsstunden pro Jahr leisten würden, seien es in der unteren Schicht 1200 Stunden. Dabei handelt es sich um Leiharbeiter, befristete Verträge oder Teilzeitkräfte.

Eine wichtige Rolle spiele auch die Stärkung der Tarifbindung. Vor allem die Politik sollte ein Signal setzen und öffentliche Aufträge nur noch an tarifgebundene Unternehmen vergeben, so Bosch.