Essen. Im Ruhrgebiet sinkt erstmals seit Jahren die Armutsquote. Für den Paritätischen Wohlfahrtsverband ist das Revier dennoch „Problemregion Nr. 1“.

In Deutschland wird erstmals seit Jahren wieder weniger Armut gemessen. Zu diesem Ergebnis kommt der neue „Armutsbericht 2019“ des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes. Auch im Ruhrgebiet ging die Armut zurück - sogar überdurchschnittlich um 1,1 Prozentpunkte. Doch für den Hauptgeschäftsführer des Sozialverbandes, Ulrich Schneider, ist das kein Grund zum Jubeln. Für Schneider ist das Revier in Sachen Armut nach wie vor „Problemregion Nummer Eins“. Auch ganz NRW stehe nicht gut da. Ein Überblick.

Wie arm ist das Revier?

Der Paritätische Wohlfahrtsverband legt in seinem jährlichen Armutsbericht wenig ermunternde Zahlen zur Armut im Ruhrgebiet vor. Demnach ist jeder fünfte Revierbürger arm. Mit einer Armutsquote von 21,1 Prozent zählt das Revier der Untersuchung zufolge damit zu den ärmsten Regionen bundesweit. Wäre das Revier ein selbstständiges Bundesland, läge es im Länderranking auf dem vorletzten Platz, überholt nur noch vor Bremen mit 22,7 Prozent.

Wer ist besonders von Armut betroffen?

Besonders von Armut betroffen seien Kinder und junge Erwachsene, Alleinerziehende, Paar-Haushalte mit drei oder mehr Kindern, Erwerbslose, Rentner, Geringqualifizierte und Menschen ohne deutsche Staatsangehörigkeit.

Arm - was heißt das überhaupt?

In der Definition des Sozialverbandes gilt als arm, wer weniger als 60 Prozent des mittleren Haushaltseinkommens zur Verfügung hat. Eingerechnet wird das gesamte Nettoeinkommen des Haushalts inklusive Wohngeld, Kindergeld, Kinderzuschlag oder sonstiger Zuwendungen. Die bundesweite Armutsschwelle für Alleinstehende betrug 2018 beispielsweise 1035 Euro, für einen Paarhaushalt mit zwei Kindern unter 14 Jahren 2174 Euro monatlich. Ein Paar mit einem Kind unter 14 liegt bei einem Einkommen von 1.863 Euro an der Armutsschwelle.

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Gibt es andere Armutsbegriffe?

Ja. Staatliche Stellen sprechen bei der 60-Prozent-Grenze von Armutsgefährdungsrisiko, nicht von Armut. Außerdem differiert der Wert je nach Bundesland. In NRW lag die Grenze 2018 leicht unter dem Bundeswert. Laut NRW-Sozialberichterstattung waren demnach 16,6 Prozent der Bevölkerung von Einkommensarmut betroffen, der gestern vorgestellte Armutsbericht des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes spricht hingegen von 18,1 Prozent für NRW. Insgesamt spricht man in Deutschland ohnehin von relativer Einkommensarmut. Kritiker bemängeln zudem Unschärfen im Armutsbegriff. Beispiel: Viele junge Menschen fallen rein rechnerisch unter die Armutsschwelle, weil sie als Auszubildende oder Studierende – unabhängig von ihren Berufsaussichten – aktuell oft nur ein geringes Einkommen zur Verfügung haben.

Was heißt das fürs Ruhrgebiet?

Unabhängig von Armutsbegriff und Einkommensgrenzen ist die Situation im Ruhrgebiet schwierig. Das zeigt der Vergleich mit anderen Landesteilen. Besonders kritisch bewertet der Bericht dabei das Auseinanderklaffen der Regionen. Die Spanne der Armutsquote reiche von 8,5 Prozent im südlichen München bis zu fast 28 Prozent im nördlichen Bremerhaven. Der Verband spricht inzwischen von einer Vierteilung des Landes: Nach wie vor sei der Osten ärmer als der Westen. Andererseits gehöre das Ruhrgebiet zu den ärmsten Regionen im ganzen Land. NRW zähle deshalb zu den Bundesländern mit der höchsten Armutsquote.

Was sind die Gründe für den hohen Armuts-Anteil im Revier?

Der Armutsbericht nennt besonders die hohe Hartz-IV-Quote des Ruhrgebiets, die ganz gegen den Bundestrend in den letzten Jahren gestiegen sei. Zwischen 2008 und 2018 ging sie bundesweit demnach von 10,3 auf 8,9 Prozent zurück, im Ruhrgebiet stieg sie im selben Zeitraum um 1,4 Punkte auf 15,3 Prozent. Karola Geiß-Netthöfel, Regionaldirektorin des Regionalverbandes Ruhr, verweist auf den überdurchschnittlich hohen Anteil an Langzeitarbeitslosen, der dem Strukturwandel der Region geschuldet sei. Gleichwohl bringe die positive wirtschaftliche Entwicklung des Ruhrgebiets immer mehr Menschen in Lohn und Brot.

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Welche Bedeutung hat die starke Zuwanderung der vergangenen Jahre?

Von der Flüchtlingskrise und der Armutswanderung aus Südost-Europa ist das Ruhrgebiet als Ballungsraum stärker betroffen als viele andere Regionen. Ins Revier zogen zahlreiche Menschen, die auf die Sozialsysteme vor Ort angewiesen sind. Das schlägt sich statistisch nieder. Beispiel Duisburg: Laut Integrationsbericht 2018 lag die Arbeitslosenquote der deutschen Bevölkerung in der Stadt bei durchschnittlich 10,8 Prozent, unter den Nichtdeutschen hingegen bei 28,2 Prozent. Auch für Martin Schulmann, Stadtsprecher in Gelsenkirchen, ist klar: „Hauptgrund für die hohe Quote ist die hohe Zuzugsquote an Flüchtlingen und Zuwanderern aus EU-Ost.“ Gelsenkirchen habe rund 8300 Rumänen und Bulgaren sowie über 7300 Flüchtlinge aufgenommen. Der Armutsbericht betont allerdings: „Armut in Deutschland ist nicht hauptsächlich ein Problem von Migranten.“ Die Mehrzahl der Armen habe keinen Migrationshintergrund.

Was sagt die Politik?

Die NRW-Landesregierung hob als Reaktion auf den Armutsbericht ihr Engagement im Kampf gegen die Armut hervor. „Wir müssen soziale Sicherung so gestalten, dass Menschen in schwierigen Lebenssituationen nicht verarmen oder an den Rand gedrängt werden. Einen besonderen Fokus lege ich dabei auf die Bekämpfung der Kinderarmut“, sagte Sozialminister Karl-Josef Laumann (CDU) der WAZ. Grünen-Landeschef Felix Banaszak forderte die Landesregierung auf, die Verweigerungshaltung bei den kommunalen Altschulden aufzugeben. „Nur durch einen Neustart bei den Schulden haben die Städte überhaupt die Chance, bei der Wirtschaftsförderung, Armutsprävention und in Arbeitsmarktprojekten tätig zu werden“, so Banaszak.