Berlin. Laut einer Umfrage wünschen sich viele, dass die Grünen einen Kanzlerkandidaten aufstellen. Wie darüber parteiintern diskutiert wird.

Annalena Baerbock verdreht die Augen. Arbeitgebertag in Berlin. Die grüne Parteichefin steht mit FDP-Chef Christian Lindner und CSU-Generalsekretär Markus Blume auf der Bühne. Unten im Saal schauen sich Hunderte Topmanager den Auftritt an.

Wieder einmal muss sich Lindner dafür rechtfertigen, dass er im November 2017 eine Jamaika-Koalition mit Union und Grünen platzen ließ. Baerbock, die damals mit am Verhandlungstisch saß, will es nicht mehr hören. „Das Trauma steckt tief“, spottet sie. „Das steckt gar nicht“, giftet Lindner zurück.

Bundesweit haben die Grünen gute Umfrage-Werte

Baerbock lässt ihn nicht vom Haken. Dieses Berliner Geplänkel, „wer war schuld im Gestern oder Heute“, öde die Menschen an. Die wollten Antworten hören, wie es mit der Wirtschaft und beim Klimaschutz weitergehen solle. Beim gefühlten „Applaus-o-meter“ liegt Lindner an diesem Dienstag im Berliner Hotelbunker Estrel zwar vorne. Baerbock jedoch hat einmal mehr vor einem illustren Wirtschaftskreis bewiesen, dass die Grünen nicht nur Klima können. Aber kriegen die Wähler das auch mit?

Die bundesweite Zustimmung ist gut. Zwischen 18 und 22 Prozent bringen die Grünen aktuell in verschiedenen Umfragen auf die Wählerwaage. Aber es war schon mal mehr. Im Juni war die 30-Prozent-Marke in Reichweite, zeitweise überflügelten die Grünen die Union. Dann kamen die Ost-Wahlen, die weniger berauschend als erhofft ausfielen.

Frage der Kanzlerkandidatur ist bei den Grünen heikel

In Dresden und Potsdam rücken die Grünen in Kenia-Bündnissen mit CDU und SPD zwar so gut wie sicher auf die Regierungsbank. In Thüringen aber wurde ihnen schmerzhaft vor Augen geführt, dass viele sie unverändert als reine Klientelpartei, als einen Klimaschützerverein gut verdienender Stadtmenschen wahrnehmen. Die Kompetenzwerte für Wirtschaft, Arbeitsmarkt und Bildung tendierten im Freistaat gegen null.

Das war ein Alarmsignal. Bei den erfolgsverwöhnten Grünen hat es keiner überhört. So ist vor dem an diesem Wochenende in Bielefeld anstehenden Parteitag (der im Grünen-Sprech „Bundesdelegiertenkonferenz“ heißt) von Selbstzufriedenheit nichts zu spüren.

Worum es beim Grünen-Parteitag in Bielefeld geht

Hunderte Grüne kommen für drei Tage in die ostwestfälische Metropole. Bielefeld und die Grünen, da war doch was? Vor 20 Jahren wurde in der Seidenstickerhalle der damalige Außenminister Joschka Fischer mit einem Farbbeutel attackiert. Fischers Trommelfell riss, die Partei folgte ihm aber bei der Beteiligung deutscher Soldaten an dem Nato-Einsatz im Kosovo. Seinerzeit kochte die Stimmung angesichts von Krieg und Frieden vor und in der Halle hoch.

Das ist am Wochenende in dieser Schärfe nicht zu erwarten. Die Grünen tagen ohnehin nicht am Farbbeutel-Tatort Seidenstickerhalle, sondern in der Stadthalle. Spannend dürfte es dennoch werden. Schließlich stellen sich Baerbock und ihr Co-Vorsitzender Robert Habeck zur Wiederwahl.

Seit Anfang 2018 arbeiten die beiden in einer Doppelspitze zusammen. Das Duo kann eine Menge vorweisen. Die Zeit öffentlich ausgetragener Flügelkämpfe ist vorbei. Im Vorjahr feierten die Grünen in Bayern, Hessen und bei der Europawahl Wahlerfolge. Die Arbeit in der Doppelspitze läuft so harmonisch, dass sogar die nach Mitgliedern noch immer fast fünfmal so große Volkspartei SPD Anfang Dezember eine Frau-Mann-Lösung im Parteivorsitz etablieren wird.

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    K-Frage bei den Grünen: Wer könnte Deutschland besser regieren?

    Baerbock und Habeck teilen sich ein Büro, nie hört man ein schlechtes Wort des einen über den anderen. Würde es nach den beiden gehen, bekämen sie am Sonnabend in Bielefeld gleich viele Stimmen. Echte Politik ist aber keine Soap-Opera. Auch bei den Grünen wird sich beizeiten die Macht- beziehungsweise K-Frage stellen. Spätestens 2021, sollte die Koalition bis dahin halten (was nach dem Kompromiss bei der Grundrente wahrscheinlicher geworden ist).

    Wer könnte Deutschland besser regieren, die versierte Außenpolitikerin und Staatsrechtlerin Barbock (38) oder der wortmächtige Philosoph Habeck (50), der seiner Co-Chefin sechs Jahre Regierungserfahrung als Umweltminister in Schleswig-Holstein voraushat?

    Mehrheit der Deutschen hält Habeck für geeigneteren Kandidaten

    Die Deutschen haben dazu eine klare Meinung. Wie eine aktuelle Online-Umfrage der Meinungsforscher von Civey für unsere Redaktion zeigt, legten sich insgesamt 58,7 Prozent der befragten Grünen-Anhänger „eindeutig“ oder „eher“ auf Habeck als geeigneteren Kanzlerkandidaten für die nächste Bundestagswahl fest. Für Baerbock sprechen sich in Summe 16 Prozent der Grünen-Sympathisanten aus. Ein Viertel kann sich nicht entscheiden.

    Auch unter allen Bundesbürgern liegt Habeck in der K-Frage mit 41,3 Prozent („eindeutig“/„eher“) mit weitem Abstand vor Baerbock. Sie kommt hier auf 10,6 Prozent. Allerdings ist fast jeder zweite Wähler unentschieden.

    Mehrheit der Grünen-Anhänger für grünen Kanzlerkandidaten

    Eine sehr klare Meinung haben Grünen-Wähler, ob die Grünen überhaupt einen Kanzlerkandidaten aufstellen sollen. Gut 60 Prozent der Grünen-Anhänger sagen „Ja, auf jeden Fall“, weitere 22,4 Prozent neigen eher dazu. Nur neun Prozent der Grünen-Anhänger raten der Partei davon ab.

    In der Gesamtbevölkerung ist das Bild uneinheitlicher. Rund 43 Prozent der Deutschen würden die Aufstellung eines grünen Kanzlerkandidaten befürworten, mehr als 46 Prozent halten davon nichts. Jeder dritte Bürger ist sogar strikt dagegen, dass die Grünen sich auf einen Spitzenmann oder eine Spitzenfrau im Wahlkampf fokussieren.

    Frage der Kanzlerkandidatur ist bei den Grünen heikel

    Die Frage der Kanzlerkandidatur ist bei den Grünen heikel. In Bund und Ländern traten stets Spitzenkandidaten-Duos an, je eine Frau und ein Mann. So setzten sich 2017 der damalige Parteichef Cem Özdemir und die Fraktionsvorsitzende Katrin Göring-Eckardt in einer Mitgliederbefragung gegen Habeck und Anton Hofreiter durch. Für Unruhe sorgte zuletzt die öffentliche Positionierung des grünen Ministerpräsidenten Winfried Kretschmann. Der grüne Solitär und Oberrealo sprach sich in einer Talkrunde auf der Bühne des Stuttgarter Schauspielhauses für Habeck als Kanzlerkandidat aus. Keine 24 Stunden später ruderte „Kretsch“ zurück.

    Schon im August hatte der grüne Alt-Achtundsechziger Daniel Cohn-Bendit für Habeck getrommelt: „Mein Wunsch wäre, dass Annalena Baerbock ihn vorschlägt und ein Parteitag Robert Habeck aufstellt.“ Er traue Baerbock „diese Klugheit absolut zu“.

    Wie reagiert die Basis auf Gunstbezeugungen für Habeck?

    Für Habeck könnten diese männlichen Gunstbezeugungen in Bielefeld ein ungewolltes Nachspiel haben. Die auf Gleichberechtigung und Quoten penibel achtende Basis könnte versucht sein, ihrem Parteichef ein schlechteres Ergebnis als Baerbock zu verpassen, um sich von Umfrageeinflüssen und Macho-Ratschlägen abzukoppeln. Oder bleiben die grünen Delegierten so cool wie ihre Chefs und lassen die K-Frage liegen, bis sie akut wird?

    In Bielefeld könnte anderes wichtiger werden. Die Parteispitze will in der Miet- und Wohnungspolitik punkten, ebenso das Wirtschaftsprofil schärfen. Leidenschaftlich wurde zuletzt intern über die Wirksamkeit von Homöopathie gestritten. Bei den Grünen glauben viele an zuckrige Globuli-Kügelchen, obwohl kein Nutzen nachweisbar ist.

    Für eine Partei, die in der Klimadebatte für eine wissenschaftsbasierte Neuordnung des Kapitalismus eintritt und an Gretas Seite steht, ist das ein Problem. Habeck und Baerbock haben das erkannt und wollen es entschärfen. Eine Expertenkommission soll bis zum übernächsten Parteitag im Jahr 2021 Positionen zur Homöopathie erarbeiten. Spätestens dann werden die Grünen auch bei der K-Frage Farbe bekennen müssen. Eine Doppelspitze im Kanzleramt hatten die Väter und Mütter des Grundgesetzes übersehen.