Ankara. Der türkische Präsident Erdogan will im Kurdengebiet eine „Sicherheitszone“ errichten und syrische Bürgerkriegsflüchtlinge ansiedeln.
Die Türkei beginnt eine weitere Militäroffensive in Nordsyrien. Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan bestätigte den Beginn am Mittwochnachmittag per Twitter. „Unsere Streitkräfte haben zusammen mit der syrischen nationalen Armee im Norden Syriens die Operation Quelle des Friedens begonnen“, schrieb er.
Zuvor hatte Erdogan den russischen Präsidenten Wladimir Putin telefonisch über die geplante Invasion informiert. US-Präsident Donald Trump hatte am Sonntag überraschend erklärt, die amerikanischen Soldaten würden aus der Grenzregion abgezogen. Damit gab Trump den Türken praktisch freie Hand für einen militärischen Vorstoß nach Syrien.
Erdogan will in der Region zwischen dem Euphrat im Westen und der irakischen Grenze auf syrischem Gebiet eine etwa 400 Kilometer lange und 30 bis 40 Kilometer tiefe so genannte „Sicherheitszone“ schaffen.
Angespannte Lage in der Türkei wegen der Flüchtlinge
Damit verfolgt er zwei Ziele: Erstens will er dort bis zu zwei Millionen syrische Flüchtlinge ansiedeln, die sich jetzt noch in der Türkei aufhalten. Die Anwesenheit der Flüchtlinge führt in der Türkei zu immer größeren sozialen Spannungen.
Zweitens sollen die Milizen der syrisch-kurdischen Volksbefreiungseinheiten YPG, die jetzt noch große Teile der Grenzregion kontrollieren, von dort vertrieben werden. Die Türkei sieht in der YPG den syrischen Ableger der als Terrororganisation verbotenen kurdischen Arbeiterpartei PKK.
Mit der Invasion führt Erdogan die Türkei allerdings in ein militärisches Abenteuer mit ungewissem Ausgang. Die syrischen Kurden haben bereits Widerstand angekündigt. Die YPG rief am Mittwoch die kurdische Bevölkerung zu einer Generalmobilmachung auf. „Wir rufen unser Volk aus allen ethnischen Gruppen auf, sich in die Gebiete an der Grenze zur Türkei zu bewegen, um Widerstand zu leisten“, hieß es in einer Erklärung der kurdischen Autonomieverwaltung in Nord- und Ostsyrien.
Sie appellierte an die internationale Gemeinschaft, Verantwortung zu übernehmen, da „eine humanitäre Katastrophe über unser Volks hereinbrechen könnte“. Erdogans Kommunikationsdirektor Fahrettin Altun schrieb in einem Beitrag für die „Washington Post“, die Türkei wolle die syrisch-kurdischen Kämpfer „neutralisieren“ und die örtliche Bevölkerung „vom Joch der bewaffneten Schläger befreien“.
Aber die Kurden werden sich womöglich nicht so leicht geschlagen geben. Die YPG ist hoch motiviert und mit modernsten Waffen ausgerüstet – zur Verfügung gestellt von den Amerikanern für den Kampf gegen das Terrornetzwerk IS. Im Kampf gegen die IS-Terroristen haben sich die Kurdenmilizen als mutige und schlagkräftige Truppe erwiesen.
Politisch ist die Invasion für Erdogan hoch riskant
Die türkischen Streitkräfte könnten also bei ihrem Vorstoß auf erbitterten Widerstand stoßen. Gefährlicher noch: Wenn die YPG nun in Kämpfe mit der türkischen Armee verstrickt wird, könnte davon der bisher von den Kurden in Schach gehaltene IS profitieren und sich neu formieren. Noch halten die Kurdenmilizen etwa 10.000 ehemalige IS-Kämpfer in provisorischen Gefängnissen fest.
Sie könnten in den Wirren einer türkischen Invasion auf freien Fuß gelangen. Politisch ist die Invasion für Erdogan auch deshalb riskant, weil sie den Kurdenkonflikt im eigenen Land neu anfachen könnte. Die PKK ist zwar militärisch geschwächt. Sie könnte aber versuchen, mit Terroranschlägen zu reagieren, wie sie es bereits in früheren Jahren tat.
Auch für Europa beschwört ein türkischer Einmarsch in Nordsyrien neue Probleme herauf. Der syrische Bürgerkrieg wird dadurch neu angefacht. Auch wenn es Erdogans Ziel ist, Flüchtlinge in der geplanten Schutzzone anzusiedeln, dürfte die Invasion zunächst einmal eine neue Flüchtlingswelle auslösen.
Die Menschen könnten anfangs Zuflucht im Irak suchen. Aber sicher ist: Wenn jetzt wieder Hunderttausende auf die Flucht gehen, wird das über kurz oder lang auch den Migrationsdruck auf Europa verstärken.
Erdogans Ziel in Syrien: die Vertreibung der Kurden
Ohnehin sind Erdogans Pläne für eine Schutzzone aus Sicht der Europäer politisch brisant. Bei Licht besehen handelt es sich dabei um eine militärisch abgesicherte türkische Besatzungszone auf dem Staatsgebiet Syriens. Dass der türkische Staatschef dort durch die Vertreibung der Kurden und die Ansiedlung ethnischer Araber die demografischen Strukturen dauerhaft zu ändern versucht, macht die Sache noch problematischer.
Die Türkei will für die Unterbringung der Flüchtlinge in der Region zehn Städte und 140 Dörfer errichten. An den Kosten, die in Ankara auf umgerechnet knapp 25 Milliarden Euro beziffert werden, soll sich nach türkischen Vorstellungen die EU beteiligen. Dass die Europäer auf diese Idee eingehen, ist angesichts der völkerrechtlichen Problematik des Umsiedlungsprojekts aber kaum zu erwarten.
Die Bundeswehr ist in Syrien nicht mit Bodentruppen im Einsatz. Die Luftwaffe überfliegt das Kriegsgebiet aber mit Aufklärungsflugzeugen, die Stellungen oder Verstecke des IS suchen. Die Ergebnisse dürfen nur für den Kampf der internationalen Anti-IS-Koalition verwendet werden.
In Deutschland halten die Sicherheitsbehörden Anschläge militanter kurdischer Gruppen auf Geschäfte, Vereine, Moscheen und andere Einrichtungen türkischer Migranten für möglich. In diesem Jahr waren mehrere Kurden zu Haftstrafen verurteilt worden, die nach der türkischen Militäroffensive im nordsyrischen Afrin Anfang 2018 solche Anschläge verübt hatten.