Essen/Dortmund. Der Leiter des Präventionsprojekts „Kurve Kriegen“ in Essen erzählt, was Kinder zu Tätern macht. Entscheidend sind meistens drei Faktoren.

Die Schreckensnachrichten mit Kindern und Jugendlichen in der Hauptrolle scheinen nicht abzureißen: In Dortmund jagen zwei Kinder – gerade einmal zwölf und dreizehn Jahre alt – einem 14-Jährigen Todesangst ein, indem sie ihn im Gleisbett der U-Bahn-Station Clarenberg festhalten. In Essen schubst eine Gruppe Jugendlicher einen 20-Jährigen am Berliner Platz auf die Gleise. Der junge Mann kann sich retten, ehe die nächste Bahn einfährt. Auch in diesem Fall ist der Hauptverdächtige gerade einmal 14 Jahre alt. In Mülheim sorgte die mutmaßliche Beteiligung zweier Kinder an einer Vergewaltigung zuletzt für große Betroffenheit. Und am Mittwochabend behindert in Essen eine Elfjährige die Löscharbeiten der Feuerwehr derart, dass die Polizei sie in einen Streifenwagen setzen muss.

Zahl der tatverdächtigen Kinder und Jugendlichen ist in den vergangenen zehn Jahren gesunken

„Kurve Kriegen“ will Spirale der Kriminalität durchbrechen

Das Programm „Kurve Kriegen“ wurde 2011 vom NRW-Innenministerium ins Leben gerufen. Darin sollen bereits durch Straftaten aufgefallene Kinder und Jugendliche im Alter zwischen acht und fünfzehn Jahren früh daran gehindert werden, dauerhaft in die Kriminalität abzugleiten.

Mittlerweile gibt es das Projekt in 23 Städten und Kommunen in NRW. Vor Ort wird die Polizei von Sozialverbänden wie der Caritas oder der Arbeiterwohlfahrt unterstützt. Nach eigenen Angaben werden im Schnitt 40 Prozent der Teilnehmer nicht mehr straffällig.

Dabei beruht das Projekt auf Freiwilligkeit, vor allem seitens der Familien. Diese unterzeichnen einen Kooperationsvertrag und erhalten anschließend individuelle Hilfen, beispielsweise ein Erziehungstraining. Dabei nähmen überraschend viele Familien das Angebot an, sagt Mark-Steffen Daun: „Der Leidensdruck ist oft groß und die Eltern haben keine Lust mehr, wegen ihrer Kinder ständig von Behörden und Schule in Bedrängnis zu geraten. Da willigen sie lieber ein.“

Es sind krasse Fälle wie diese, die das subjektive Gefühl verstärken, Kinder und Jugendliche würden zunehmend verrohen. Tatsächlich aber sind die Zahlen der tatverdächtigen Kinder und Jugendlichen in den vergangenen zehn Jahren stark gesunken: Wies die Polizeistatistik für NRW 2011 noch 61 847 Straftaten in der Gruppe der bis 18-Jährigen aus, so waren es im vergangenen Jahr noch 41 997.

Den rückläufigen Trend bestätigt auch Kriminalhauptkommissar Mark-Steffen Daun. Er leitet von Polizeiseite das Präventionsprojekt „Kurve Kriegen“, das 2016 in Essen und Mülheim an den Start ging. Kinder und Jugendliche seien nicht gewaltbereiter als früher, das Gegenteil sei der Fall: „Die Kids, mit denen wir es vor sieben oder acht Jahren zu tun hatten, waren deutlich schlimmer. Die Kriminalität in diesem Bereich geht deutlich zurück.“ Es sei vielmehr die hohe mediale Aufmerksamkeit, die das Gefühl einer erhöhten Gewaltbereitschaft unter Kindern und Jugendlichen verstärke.

Darüber hinaus kritisiert Daun eine Schwarz-Weiß-Zeichnung in der Berichterstattung, die junge Tatverdächtige oft vorverurteile. „Ich will damit keine der Straftaten aus den vergangenen Wochen verharmlosen, das war alles für sich genommen ganz schrecklich“, sagt Daun. Vielmehr wolle er den Blick für den Hintergrund der Kinder und Jugendlichen schärfen. „Die Kids kommen oft aus Familien, die sich kaum um sie kümmern.“ Das fange beim fehlenden Spielzeug im Kinderzimmer an und höre bei einer totalen emotionalen Verwahrlosung auf: „Da gibt es keine regelmäßigen Mahlzeiten, geschweige denn, dass diesen Kindern mal vorgelesen wurde“, beschreibt Daun die Zustände.

„Kurve Kriegen“ setzt an, wenn das Kind schon fast in den Brunnen gefallen ist

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Entsprechend setze das Projekt „Kurve Kriegen“ meistens dann an, „wenn das Kind zwar noch nicht in den Brunnen gefallen ist, aber zumindest am Rand steht.“ Entsprechend plädiert Daun dafür, Kinder bei Alarmsignalen früher aus den Familien zu nehmen – wenngleich er weiß, wie hoch die Hürden dafür in Deutschland sind: „Aber wir haben es als Gesellschaft bislang leider nicht geschafft, allen Kindern eine Chance zur Teilhabe zu geben. Die Weichen werden im Elternhaus gestellt.“

So gebe es im Wesentlichen drei Gründe, warum schon teils Achtjährige in eine Kriminalitätsspirale abrutschen. 85 Prozent der Teilnehmer aus „Kurve Kriegen“ hätten den falschen Umgang – geben sich also mit Freunden ab, die ebenfalls bereits auffällig geworden sind. 83 Prozent lebten in einem kriminalitätsbelasteten Umfeld und 73 Prozent der Kinder fehlte eine Tagesstruktur. „Kurve Kriegen“ zeige in Essen bereits Erfolge und fruchte bei der Hälfte aller Teilnehmer. Kritikern, die die teils durch tier- oder theatergestützte Projekte als Kuschelpädagogik und Steuerverschwendung abtun, hält Daun zahlen entgegen: „Jeder Intensivtäter kostet den Staat bis zu seinem 25. Lebensjahr rund 1,7 Millionen Euro. Wenn wir es gar nicht soweit kommen lassen, ist das nicht nur gesellschaftlich sondern auch wirtschaftlich ein Erfolg.“