Berlin. Der Mord an Walter Lübcke wird immer mehr zu einem Teil im Puzzle „Deutscher Rechtsextremismus“. Die Zusammenhänge sind erschreckend.
Als der junge Stephan E. 1993 mit einer selbst gebastelten Rohrbombe in einen Nachbarort seiner hessischen Heimat loszieht, um einen Anschlag auf ein Asylbewerberheim zu verüben, erlebt Deutschland gerade eine Welle der Gewalt von Neonazis.
In Hoyerswerda, Mölln, Rostock und Solingen hatten Rechte Ausländer gejagt und ihre Wohnungen in Brand gesteckt. Manche der Neonazis von damals sind ausgestiegen, bekamen Kinder, gründeten Familien, wuchsen aus der Radikalität heraus. Doch viele agieren bis heute in diesen Strukturen. Unter ihnen Thorsten H., NPD-Funktionär und rechtsextremer Strippenzieher.
Auch Stanley R., der einer der führenden Köpfe der militanten Gruppe „Combat 18“ sein soll. Dazu gehört auch Marko G. aus Dortmund, der Sänger der rechtsradikalen Band „Oidoxie“ ist. Die Band soll an diesem Wochenende auf einem Rechtsrock-Festival im thüringischen Themar spielen, organisiert von der NPD.
Neo-Nazis: Die Gemeinsamkeiten der rechtsextremen Straftäter
Sie alle sind in den 1960er- und 1970er-Jahren geboren. So wie auch Stephan E., der Jahrgang 1973 ist. Er steht im Verdacht, den hessischen Regierungspräsidenten Walter Lübcke mit Kopfschuss getötet zu haben. E. gehört zur selben Generation von Rechtsextremen wie die Rechtsterroristen Uwe Mundlos, Uwe Böhnhardt und Beate Zschäpe, die zwischen 1973 und 1977 geboren wurden.
Über Jahrzehnte haben sich bis heute Netzwerke formiert, innerhalb Deutschlands, aber auch nach Tschechien, England, Skandinavien und Österreich. Neonazis veranstalten Konzerte, gründen im Schatten staatlicher Überwachung lose Netzwerke und bauen Parteien auf. Zu ihrer Agenda gehört auch Gewalt. Allein 2018 zählten die Sicherheitsbehörden 871 rechte Gewalttaten in der Kategorie „Hasskriminalität“.
„Combat 18“ – lose, gewaltbereite Zellen
Eine Organisation ist jüngst in den Fokus gerückt, die am liebsten im Verborgenen agiert: „Combat 18“. Die Zahlen stehen für den ersten und achten Buchstaben im Alphabet. A und H. Adolf Hitler. Eine Säule der Gruppe ist „Leaderless Resistance“, also Widerstand ohne einen Kopf an der Spitze. Die Idee: Rechtsextreme vernetzen sich, agieren aber auf eigene Faust. Auch wenn sie Gewalt verüben.
In einem C18-Strategiepapier, das der bayerische NSU-Untersuchungsausschuss ausgewertet hat, heißt es: „Keine Zelle sollte in den bewaffneten Kampf einsteigen, wenn sie keinen sicheren Ort hat, wo sie Waffen, Munition und gesammelte Informationen verstauen kann.“ Das Ziel der Angriffe wurde auch benannt: „Einwanderer“.
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C18 gelten als „rassistisch und gewaltbereit“
C18 gilt den Sicherheitsbehörden als „rassistisch und gewaltbereit“. Bisher ist die Gruppe, die für die Bundesregierung als verlängerter Arm der verbotenen Organisation „Blood and Honour“ gilt, in Deutschland nicht verboten. „Mangels gefestigter Strukturen“, wie es auf Nachfrage im Innenministerium heißt. Politisch motivierte Straftaten, die C18 zugerechnet werden können, seien bislang nicht bekannt.
C18 entstand Anfang der 1990er-Jahre in Großbritannien. Wenige Jahre später nehmen erste Neonazis in Deutschland das Label für sich in Anspruch. Einer der Gründer der Gruppe, William Browning, knüpft früh Kontakte in die hiesige Szene. Im Booklet einer 2009 veröffentlichten CD von Marko G.s Soloprojekt „Straftat“ mit dem Titel „Hail C18“ (dt. „Heil C18“) findet sich eine Grußliste, darauf stehen unter anderem „Stanley“ und „Will“ – gemeint sind Stanley R. und William Browning. R. war lange in Kassel führender Neonazi, hatte auch Kontakte zu dem
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Heute gilt R. als einer der wichtigsten Akteure bei „Combat 18“.
Ein wichtiger Arm der rechtsextremen Szene
Dortmund und Nordhessen sind nach Ansicht von Experten Hochburgen der Gruppierung. Dort mordete 2006 der rechtsterroristische NSU. Die Taten lagen nur zwei Tage auseinander. Bei einem Dortmunder Szene-Aufmarsch 2016 hat C18-Gründer Browning noch mit einem anderen führenden Rechtsextremen Kontakt. Ein Foto zeigt ihn mit Thorsten H.
H., der aus Niedersachsen stammt, aber im thüringischen Fretterode wohnt, ist Anknüpfungspunkt für viele Strömungen der Szene. Vor allem aber ist der 50-Jährige stellvertretender Vorsitzender der NPD.
Das Bundesverfassungsgericht bescheinigte der Partei 2017 ein politisches Konzept, das die freiheitlich-demokratische Grundordnung abschaffen will. Verboten wurde sie damals trotzdem nicht – die Partei war nach Ansicht der Richter schlicht zu unbedeutend, um sie zu verbieten. Doch auch wenn die NPD bei Wahlen kaum Erfolge verbuchen kann und 2019 ihren einzigen Sitz im Europaparlament verloren hat, bleibt sie ein wichtiger Arm der rechtsextremen Szene in der Öffentlichkeit.
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NPD und der III. Weg – Arm in die Öffentlichkeit
Im Schatten der NPD ist eine weitere rechtsextreme Partei herangewachsen: der III. Weg, gegründet 2013 in Baden-Württemberg. Ein interner Bericht des Bundesinnenministeriums zur Kleinstpartei, der unserer Redaktion vorliegt, bescheinigt der Partei eine dezidiert antisemitische, rassistische und islamfeindliche Ausrichtung. Der Verfassungsschutz Sachsen – in dem Bundesland hat die Partei einen Schwerpunkt ihrer Aktivitäten – sieht im III. Weg eine Art Auffangbecken für Extremisten aus verbotenen Strukturen. Das Parteienprivileg werde genutzt, um vereinsrechtlichen Maßnahmen zu entgehen.
Nur in einzelnen Regionen Deutschlands, vor allem in Thüringen, Sachsen und Nordbayern, ist die Partei vor Ort wahrnehmbar. Und dennoch strahlt sie mit werbewirksamen Aktionen bundesweit Bedeutung aus, zuletzt am 1. Mai, als Mitglieder mit Trommeln und Fackeln durch die Stadt Plauen zogen – im Stil der Nationalsozialisten.
„Das ist eine große Szene, die in den 1990ern aktiv geworden ist, bis in die 2000er“, sagt Katharina König, Landtagsabgeordnete der Linkspartei in Thüringen und Kennerin der Szene. Die Ereignisse dieser Zeit seien eine Schlüsselerfahrung gewesen für viele Rechtsextreme: Aus der Reaktion der Gesellschaft auf rechtsextreme Gewalt hätten sie gelernt, dass sie mit Gewalt Einfluss nehmen können auf parlamentarische Prozesse. Viele hätten sich später aus öffentlichen Aktivitäten zurückgezogen. Doch das bedeute nicht, dass sie nicht mehr eingebunden gewesen seien in die Strukturen der Szene – oder sich abgewandt hätten von der Ideologie, sagt König.
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Tommy F.: Strippenzieher und Konzertveranstalter
Ein weiterer Strippenzieher der Szene ist Tommy F., Jahrgang 1987, der vor einigen Jahren einen Gasthof in Thüringen erworben hat. Seitdem treffen sich dort regelmäßig Neonazis zu Konzerten. Im nahe gelegenen Themar, das auch zum Einzugsgebiet von F. zählt, kamen 2018 gut
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2017 besuchten sogar 6000 Rechte die Veranstaltung. Auch an diesem Wochenende wollen sich Rechtsextreme dort zum Feiern treffen.
Ticketverkäufe, der Handel mit CDs und Fanartikel der Rechtsrock-Bands sind eine wichtige Einnahmequelle – für „rechte Unternehmer“, aber auch für die Szene. In Deutschland sind laut Bundesregierung rund 150 Immobilien als rechtsextremistisch genutzt einzustufen. Allein im ersten Halbjahr 2018 fanden in Deutschland 130 Rechtsrock-Konzerte statt.
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Neben Konzerten auch wichtige Einnahmequelle: Kampfsport
Eine ähnliche Funktion haben Kampfsport-Events, die Neonazis austragen. Zum „Kampf der Nibelungen“ kamen im vergangenen Jahr mehrere Hundert Rechtsextremisten aus Deutschland und Europa. Neben der Rekrutierung neuer Mitglieder für die Szene wird laut Verfassungsschutz gezielt für den Straßenkampf mit dem politischen Gegner trainiert.
Recherchen unserer Redaktion konnten zeigen, dass einzelne Neonazi-Kampfsportler etwa bei den Ausschreitungen in Chemnitz im vergangenen Sommer dabei waren. Etliche Szenegrößen sind vorbestraft, auch wegen Körperverletzung.
Der Neonazi Thorsten H. gehört auch hier zu den wichtigen Figuren. Mehrfach veranstaltete er Festivals im sächsischen Ostritz, zuletzt im Juni. Auch Showkämpfe fanden dort in der Vergangenheit statt. Dieses Jahr allerdings fielen die Kämpfe aus. Der Veranstalter habe nicht genügend Kämpfer gefunden, heißt es.