Essen. . NRW-Oppositionsführer Thomas Kutschaty spricht über das Ende von Hartz IV und seine Rolle als Laschet-Herausforderer.

Thomas Kutschaty ist erstmals als Oppositionsführer in NRW auf „Sommertour“. Der SPD-Politiker und langjährige Justizminister lernt so Land und Themen neu kennen. Beim Redaktionsbesuch in Essen stand er Lutz Heuken, Frank Preuß und Tobias Blasius Rede und Antwort.

SPD-Oberbürgermeister im Ruhrgebiet rufen neuerdings nach den umstrittenen „Ankerzentren“ für Flüchtlinge. Was ist los in Ihrer Partei?

Thomas Kutschaty: Das ist ein Hilferuf. Ich kann verstehen, dass sich die Kommunen vom Bundesinnenminister und der aktuellen Landesregierung bei Unterbringung und Versorgung von Flüchtlingen allein gelassen fühlen. Unsere Bürgermeister waren es nicht, die 2015 die Grenzen geöffnet haben. Aber sie müssen bis heute den Kraftakt der Integration von Menschen mit Bleibeperspektive und der finanziellen Unterstützung von Tausenden Asylbewerbern mit dauerhaftem Duldungsstatus weitgehend allein hinbekommen.

Sind „Ankerzentren“ die Lösung?

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Kutschaty: Bund und Land müssen die Städte mit schnelleren Asylverfahren und größerer finanzieller Unterstützung entlasten. Seehofers Ankerzentren will ja selbst die schwarz-gelbe Landesregierung in NRW nicht haben. Ich halte gar nichts von haftähnlichen Abschiebezentren mit 2000 Menschen. Die sind rechtlich fragwürdig und bergen ein enormes Sicherheitsrisiko.

Sie haben mit dem Ruf nach einer Hartz-IV-Reform aufhorchen lassen. Wollen Sie die NRW-SPD nach links rücken?

Kutschaty: Ich will eine moderne SPD, die für sozialen Aufstieg und soziale Sicherheit gleichermaßen steht. Ich bin seit 13 Jahren Berufspolitiker, und es vergeht seither kein Tag, an dem ich nicht von unseren Mitgliedern und Anhängern auf Fehlentwicklungen durch die Hartz-Reformen angesprochen werde. Dann muss man auch endlich den Mut haben zu sagen: Wir ändern das. Und zwar ohne Freibier für alle zu versprechen.

Sondern?

Kutschaty: Wir sollten uns ehrlich machen: Die SPD kann bis heute nicht erklären, warum der 49-jährige Facharbeiter nach einem Jahr Arbeitslosigkeit genauso behandelt wird wie der 25-Jährige, der noch keinen Tag in seinem Leben gearbeitet hat. Das hat das Gerechtigkeitsempfinden unserer Anhänger tief verletzt. Wir brauchen eine große Sozialstaatsreform, die dann auch nicht mehr den Namen eines verurteilten VW-Managers tragen darf. Ich wünsche mir, dass aus der nordrhein-westfälischen SPD heraus dafür ein Modell entwickelt wird, das soziale Sicherheit und Leistungsgerechtigkeit endlich wieder in Einklang bringt.

Sie gehörten zu den prominentesten Gegnern der Großen Koalition. Fühlen Sie sich bestätigt?

Kutschaty: Was Herr Seehofer und die Union da in Berlin aufführen, hätte sich wohl niemand ausmalen können. Die SPD ist der verlässliche Teil dieser Bundesregierung und hat bei der Musterfeststellungsklage oder dem sozialen Arbeitsmarkt bereits ihre Handschrift deutlich gemacht. Das finde ich positiv. Ende 2019 werden wir wie im Koalitionsvertrag vereinbart Halbzeitbilanz ziehen und sehen, ob und wie es in der Großen Koalition weitergehen kann.

Sie fordern neuerdings eine landeseigene Wohnungsbaugesellschaft. Was soll das bringen?

Kutschaty: Mehr bezahlbare Wohnungen. Nordrhein-Westfalen braucht in den nächsten fünf Jahren 400 000 neue Wohnungen. Der Neubau von öffentlich gefördertem Wohnraum ist auf einem erschreckend niedrigen Niveau angekommen. Dabei ist Wohnen heute die soziale Frage. Private Investoren müssen renditeorientiert bauen und schaffen ein ganz anderes Angebot, als es sich Menschen mit kleinen und mittleren Einkommen leisten können. Deshalb sehe ich das Land mit einer eigenen Wohnungsbaugesellschaft in der Pflicht.

Die LEG ist doch erst vor zehn Jahren privatisiert worden.

Kutschaty: Es war ein Riesenfehler, dass die Regierung Rüttgers damals die LEG an Heuschrecken verramscht hat. Dass es anders geht, könnte sich Ministerpräsident Laschet in Bayern abgucken: Dort wurde gerade die staatliche Wohnungsbaugesellschaft „BayernHeim“ gegründet, die bis 2025 rund 10 000 zusätzliche Wohnungen schaffen soll.

Die Abschiebung des tunesischen Gefährders Sami A. hält die Landespolitik in Atem. Sind Sie dafür, den Mann zurückzuholen?

Kutschaty: Nein. Ich bin nicht der Anwalt von einem Typen wie Sami A., den sicher niemand wieder im Land haben will. Aber ich fühle mich als Anwalt des Rechtsstaats, der von dieser Landesregierung mit Füßen getreten wird. Das Verwaltungsgericht Gelsenkirchen ist ausgetrickst worden, um Sami A. in einer Nacht-und-Nebel-Aktion auszufliegen. Das ist ein skandalöser Umgang mit unserer unabhängigen Gerichtsbarkeit. Wenn dieser Gefährder auf Geheiß des Oberverwaltungsgerichts in den nächsten Tagen zurückgeholt werden müsste und dann frei durch Bochum läuft, geht das ganz allein auf das Konto dieser Landesregierung.

Werden Sie 2022 Ministerpräsident Laschet herausfordern?

Kutschaty: Die Frage stellt sich jetzt noch nicht. Aber ich habe immer gesagt: Wer in der NRW-SPD Führungsaufgaben übernimmt, muss sich die Spitzenkandidatur zutrauen.