Essen. . Um den Pflegekollaps zu verhindern, fordern Forscher ein radikales Umdenken. Höhere Versicherungsbeiträge seien unvermeidlich, aber verkraftbar.

Noch vor der Sommerpause will die Bundesregierung ein Sofortprogramm gegen den Personalmangel in Pflegeheimen auf den Weg bringen. 8000 zusätzliche Stellen sind im Koalitionspapier vereinbart. Bis zu 13.000 könnten es am Ende werden, wenn man jüngsten Äußerungen von Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) Glauben schenkt. Sein Ziel sei es, sagte Spahn, dass in jeder der 13.000 stationären Alten-Pflegeeinrichtungen in Deutschland zusätzliches Personal ankomme.

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Doch gehen die Rechenspiele des Ministers überhaupt auf? Ist Spahns „Sofortprogramm“ mehr als nur der sprichwörtliche Tropfen auf den heißen Stein? Der Kölner Pflegeexperten Frank Weidner meint: eindeutig nein. Die Vorschläge der Bundesregierung sind nach Ansicht des Leiters des renommierten Deutschen Instituts für angewandte Pflegeforschung in Köln (DIP) ganz im Gegenteil völlig unzureichend. „Die versprochenen zusätzlichen Kräfte für Pflegeheime weisen zwar in die richtige Richtung. Aber wer wirklich etwas erreichen will, der muss jetzt klotzen und nicht kleckern“, sagte Weidner dieser Zeitung.

Reform der Pflegeversicherung benötigt

Der Sozialwissenschaftler, der als gelernter Krankenpfleger beruflich tief in der Pflege-Materie verankert ist, fordert nichts weniger als einen radikalen Systemwechsel. Aus seiner Sicht kann nur eine grundlegende Reform der Pflegeversicherung den drohenden Kollaps in der Versorgung einer wachsenden Zahl pflegebedürftiger Menschen noch verhindern – auch wenn das viel Geld kosten werde. Für spürbare Verbesserungen aber, sagte der Pflegeforscher, seien die Bürger bereit, auch mehr zu zahlen.

Das Kölner Institut geht in der Tat von völlig anderen Größenordnungen in der Pflege aus. Bis zum Ende der laufenden Legislaturperiode im Jahr 2021 müssten laut den Berechnungen der Forscher rund 100 000 zusätzliche Stellen in der Pflege in Deutschland geschaffen werden, davon allein etwa die Hälfte in der Altenpflege. Zusätzlich müssten – vor allem in der Altenpflege – die Vergütungen für das Pflegefachpersonal um bis zu 30 Prozent angehoben werden, damit zumindest das Gehaltsniveau der Krankenpflege erreicht werde.

Auch das Problem des grassierenden Fachkräftemangels und der Abwanderung aus dem Beruf halten die Kölner für lösbar. „Es geht nicht nur darum, neue Köpfe zu gewinnen, sondern diejenigen, die der Pflegebranche den Rücken gekehrt haben, durch attraktive Angebote wieder zurückzugewinnen“, so Weidner. Hintergrund: Durch die hohe Teilzeitquote blutet der Arbeitsmarkt für Pflegekräfte seit Jahren immer weiter aus. Weidner nennt das eine „Flucht auf Raten“. Nicht einmal 30 Prozent aller Pflegekräfte in Deutschland arbeiten nach DIP-Berechnungen noch in Vollzeit, Tendenz weiter fallend. Zwar gebe es insgesamt deutlich mehr Pflegekräfte als etwa noch 1999. Durch die rasant gestiegene Teilzeitquote seien der Pflege in den vergangenen Jahren unter dem Strich aber rund 60 000 Vollzeitstellen verloren gegangen, so der DIP-Chef.

Zwölf Milliarden Euro jährlich mehr

Doch den Pflegeforschern geht es auch um bessere Qualifikation und mehr Forschung. Wie kommt man in einem Umfeld mit einer absehbar steigenden Zahl von Pflegebedürftigen mit weniger Pflegekräften aus? Wie kann man den Beruf des Altenpflegers deutlich attraktiver machen? Darauf müsse es endlich Antworten geben.

Die Kosten für einen umfassenden Systemwechsel schätzen die DIP-Experten auf rund zwölf Milliarden Euro jährlich – finanziert etwa zur Hälfte aus Steuermitteln und aus höheren Pflegeversicherungsbeiträgen.

Den Anstieg der Versicherungsbeiträge – aus Sicht der Abermillionen Beitragszahler immer ein sensibles Thema – hält Weidner für verkraftbar. Nach einer in der Branche gängigen Faustregel spült eine Anhebung der Beitragssätze um 0,1 Prozentpunkte etwa 1,2 Milliarden Euro mehr in die Pflegekassen. Für die aus Beiträgen zu finanzierenden Zusatzkosten wäre also eine Erhöhung um 0,5 Prozentpunkte nötig. Derzeit liegt der zu gleichen Teilen von Arbeitnehmern und Arbeitgebern getragene Satz bei 2,55 Prozent (Kinderlosen-Zuschlag: 0,25 Prozent).

Finanzieren ließe sich der Systemwechsel nach Ansicht von Frank Weidner aber auch leicht ohne merkliche Beitragssteigerung. Gesundheitsminister Spahn könne ja auf sein Ansinnen verzichten, die Krankenkassen zu Beitragssenkungen zu zwingen – und das Geld stattdessen lieber in die Pflegekassen umlenken.