Essen. . Mit einem Sofortprogramm will Bundesgesundheitsminister Jens Spahn die Situation in Heimen verbessern. Experten aus NRW geht das nicht weit genug.
Weil die Beiträge zur Pflegeversicherung leicht angehoben wurden, fließen seit der Pflegereform im vergangenen Jahr zusätzliche Milliarden-Beträge ins System der Altenpflege. Zehntausende Pflegebedürftige allein in NRW profitieren seitdem unter anderem von feiner justierten „Pflegegraden“ und einer besseren Berücksichtigung demenzieller Erkrankungen. Doch der oft kritisierte Pflegenotstand in Deutschland ist damit nicht aus der Welt. Tausende Pflegekräfte fehlen, die Kosten laufen aus dem Ruder. Kann das „Sofortprogramm Pflege“ helfen, das der neue Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) auflegen will? Ein Überblick.
Was plant Bundesgesundheitsminister Spahn?
Das im Koalitionsvertrag von Union und SPD vereinbarte Sofortprogramm Pflege sieht vor, bundesweit kurzfristig 8000 neue Stellen in Pflegeheimen zu schaffen. Dabei handelt es sich nicht um neue Altenpflege-Stellen, sondern um medizinisches Personal, das die Altenpfleger in den Einrichtungen entlasten soll. Darauf wies das Bundesgesundheitsministerium auf Nachfrage dieser Zeitung hin. Finanziert werde der neue Stellenpool somit durch die gesetzlichen Krankenversicherungen, nicht über die Pflegekasse. Die Belastung könne so nicht auf die Pflegesatzberechnung durchschlagen.
Kommt das „Sofortprogramm“ wirklich sofort?
Nach politischer Zeitmessung offenbar ja. Gesundheitsminister Spahn hatte erst kürzlich angekündigt, dass er bis zum Sommer einen entsprechenden Gesetzentwurf vorlegen will. Sein Ministerium spricht auf Nachfrage von „bald“. Das Problem: Angesichts von bundesweit rund 13 600 Pflegeheimen sind 8000 neue Kräfte nicht mehr als ein Tropfen auf den heißen Stein. Rein rechnerisch kommen auf jede Einrichtung gerade einmal 0,6 zusätzliche Kräfte. Außerdem: Altenpflegekräfte sind Mangelware. Bundesweit gibt es in Pflegeheimen schon heute 17 000 offene Stellen.
Wie will der Bund neue Pflegkräfte gewinnen ?
Pflegeberufe sollen attraktiver werden, zum Beispiel durch eine bessere Bezahlung und bessere Personalausstattung. Auch das ist im Koalitionsvertrag vereinbart. Zur geplanten „Konzertierten Aktion Pflege“ zählen nach Auskunft des Ministeriums eine Ausbildungsoffensive, Anreize zur Rückkehr von Teilzeit in Vollzeit, Wiedereinstieg in den Pflegeberuf und die Weiterqualifizierung zur Pflegefachkraft. In der Ausbildung soll das Schulgeld endgültig abgeschafft und eine besseren Ausbildungsvergütung flächendeckend eingeführt werden. Die Bezahlung der Pflegekräfte nach Tarif solle gestärkt, die Pflegemindestlohnkommission gebeten werden, zeitnah für eine Angleichung der Mindestlöhne in Ost und West zu sorgen.
Sind Entlastungen für Angehörige von Pflegbedürftigen geplant?
Ja. Um pflegende Angehörige zu entlasten, sollen verschiedene Pflegeangebote wie Kurzzeit- und Verhinderungspflege zu einem jährlichen Entlastungsbudget zusammengefasst werden, das dann flexibel genutzt werden kann. Pflegende Angehörige sollen zudem einen Anspruch auf medizinisch Reha-Leistung erhalten. Auch beim sogenannten Elternunterhalt, der oft bei der Übernahme von Heimkosten fällig wird, soll es eine Entlastung geben: Auf das Einkommen von Kindern pflegebedürftiger Eltern will der Staat künftig erst ab einem Einkommen von 100 000 Euro im Jahr zugreifen. Derzeit gibt es nach Abzug diverser Schonbeträge eine Freibetragsgrenzen von monatlich 1800 Euro netto.
Sind die Maßnahmen der richtige Weg aus der Dauerkrise?
Nach Ansicht von Experten gehen die Vorhaben der Bundesregierung in die richtige Richtung – aber eben nicht weit genug. Nach Berechnungen des Deutschen Instituts für angewandte Pflegeforschung in Köln wären im deutschen Gesundheitswesen allein bis 2021 rund 100 000 zusätzliche Pflegestellen nötig, die Hälfte davon in Altenheimen und in der ambulanten Pflege. Außerdem müsse die Vergütung des Pflegepersonals bis zu 30 Prozent angehoben werden. Zwölf Milliarden Euro jährlich würde das nach Berechnungen der Forscher zusätzlich kosten. Ohne spürbare Beitragsanhebungen in der Kranken- und Pflegversicherung sowie Zuschüsse aus der Steuermitteln wäre das nicht zu bezahlen.
>> 3,3 MILLIONEN PFLEGEBEDÜRFTIGE
Nach der Pflegereform 2017 ist die Zahl der Leistungsbezieher von 2,9 auf 3,3 Millionen gestiegen. Dabei dürfte es nicht bleiben. Wegen der demografischen Entwicklung rechnet das Bundesgesundheitsministeriums mit 4,07 Millionen Pflegebedürftige bis 2030. Im Jahr 2050 könnten es demnach schon 5,32 Millionen sein