Düsseldorf. . Mit Machtwillen und Wettkampfhärte hat Innenminister Ralf Jäger alle bisherigen Skandale überstanden. Jetzt setzt ihm die Terrorakte Amri zu.

Jetzt nur nicht stürzen. Ralf Jäger steht wie ein Skianfänger im Schneepflug, kippelt auf den Schuhkanten, klammert sich ans Rednerpult. Im Fernsehen sieht man es nicht. Man hört nur, dass er ungewohnt kurzatmig spricht, Sätze mit Mühe zu Ende bringt.

Es ist der Nachmittag des 21. Dezember. Anderthalb Tage nach dem Terroranschlag auf den Berliner Weihnachtsmarkt. Der mutmaßliche Attentäter Anis Amri war in NRW gemeldet und als gefährlich bekannt. Der Innenminister wurde aus dem Winter-Kurzurlaub geholt. Jäger bezieht im riesigen Hörsaal seines Ministeriums Aufstellung, einem Relikt alter WestLB-Herrlichkeit. Das heutige Innenministerium gehörte zum Reich der mächtigen Landesbank.

Geübt in der Flucht nach vorn

Amri habe seit Februar 2016 seinen Lebensmittelpunkt in Berlin gehabt und sei „zuletzt kurz“ in NRW gewesen, betont Jäger. Der Tunesier sei lediglich „für einen sehr kurzen Zeitraum wieder hier angetroffen“ worden. Die Ausländerbehörde Kleve sei nur „aus verfahrensökonomischen Gründen“ für Amri zuständig gewesen. Sämtliche Erkenntnisse seien „grundsätzlich zwischen allen Behörden ausgetauscht“ worden.

Jäger schaltet in den Krisenmodus. Für ihn heißt das: Distanz zwischen sich und die Ereignisse bringen. Verantwortung woanders verorten. Den entschlossenen Aufklärer eigener Unzulänglichkeiten geben. Der 55-jährige SPD-Politiker hat darin Routine wie kein Zweiter in Düsseldorf.

Sondersitzung des Innenausschusses im Landtag

Seit fast sieben Jahren ist Jäger im Amt. Die Loveparade-Katastrophe, der Misshandlungsskandal im Flüchtlingsheim Burbach, die Hogesa-Krawalle, Rekordeinbruchszahlen und die Kölner Silvesternacht – er hat alles überstanden. Der schlimmste islamistische Anschlag auf deutschem Boden mit zwölf Todesopfern könnte vier Monate vor der Landtagswahl seine schwerste Prüfung werden. Jäger muss am Donnerstag bei einer Sondersitzung des Innenausschusses im Landtag darlegen, warum die Behörden alles über Amri wussten, aber ihn nicht stoppten.

Bislang konnte sich der Innenminister auf die Rückendeckung von Ministerpräsidentin Hannelore Kraft (SPD) verlassen. Kraft, die viel Wert auf einen Freundeskreis außerhalb der Politik legt, zählt ihn zu ihren wenigen persönlichen Vertrauten. Beide stammen aus bescheidenen Verhältnissen im Ruhrgebiet, sind leutselig und ähneln sich in ihrer schnörkellosen Sprache. Jäger verfügt über den vielleicht noch ausgeprägteren Machtwillen und größere Wettkampfhärte.

„Ich ertrage vieles, sogar Ihre Kommentare.“

Als sich nach den Kölner Silvesterübergriffen die Rücktrittsforderungen häuften, versteckte sich Jäger nicht. Er posierte selbstbewusst bei PR-Terminen vor Polizei-Hubschraubern und bei Lkw-Kontrollen, schnürte Sicherheitspakete und stellte sich bei öffentlichen Terminen gut gelaunt zum Würstchen-Wenden mit Schürze hinter den Grill. Gegenüber Journalisten frotzelte er: „Ich ertrage vieles, sogar Ihre Kommentare.“ Zum Abreagieren ging der Minister mit seinen kantigen Personenschützern in den Fitnesskeller des Landtags.

Jäger hat früh gelernt, sich durchzubeißen. Aufgewachsen ist er als Halbwaise mit drei Geschwistern in Duisburg-Meiderich. Schon als Schüler half er seiner Mutter hinter dem Tresen der einstigen Stahlarbeiter-Kneipe „Königs-Eck“. Dort sei er politisiert worden, hat Jäger einmal erzählt. Er ließ sich zum Groß- und Außenhandelskaufmann ausbilden, brach ein Studium ab. Über den Duisburger Stadtrat und eher unrühmliche Jahre im Landtag als Oppositions-Rabauke mit Spitzenamen „Jäger 90“ reifte er ab 2010 zum Staatsmann.

Jägers Hemsärmeligkeit wird ab 2014 zum Problem

Bis Mitte 2014 lief es glänzend für den Innenminister. Mit markigen Sprüchen ging er gegen Rocker, Hooligans oder Neonazis vor und profilierte sich als „roter Sheriff“.

Unverwüstlichkeit und Hemdsärmeligkeit wurden jedoch in schwierigen Lagen zum Problem. Verantwortung für die Kölner Silvesternacht lehnte er mit dem flapsigen Hinweis ab, die Gesundheitsministerin stehe ja auch nicht für eine Blinddarm-Operation gerade. Den Landtag, seinen Gesetzgeber, kanzelte er in einer Debatte über „No-Go-Areas“ als „No-Brain-Area“ (hirnlose Zone) ab. Und nur Stunden nach den Anschlägen von Brüssel im Frühjahr 2016 verstieg er sich pietätlos zum Vorwurf an belgische Behörden, diese hätten die salafistische Szene „jahrelang nicht im Blick“ gehabt.

All das holt Ralf Jäger jetzt ein.

>> SONDERSITZUNGEN IM LANDTAG

Wiederholt beantragte die Opposition im Landtag 2016 Sondersitzungen, in denen sich Minister zu „besonders dringenden Fällen“ äußern mussten – etwa nach den Silvesterexzessen. Laut §53 der Geschäftsordnung des Landtags muss mindestens ein Viertel der Ausschussmitglieder hinter dem Antrag stehen, dem die Landtagspräsidentin zustimmt.