Brüssel. „Le Terne“ – der Glanzlose. So titelt in Belgien die französischsprachige Zeitung „Le Soir“, die Überschrift prangt von jedem Kiosk in Brüssel. Glanzlos – so beschreiben die meisten Belgier ihren neuen Ministerpräsidenten Yves Leterme.
Nach neun Monaten Regierungskrise, der längsten in der Geschichte des Königreiches, ist die Euphorie vom Wahlabend längst verflogen, stattdessen macht sich Ernüchterung breit – und Skepsis. Dennoch wird der liberale Übergangsregierungschef Guy Verhofstadt heute sein Büro räumen. Läuft alles nach Plan, wird König Albert II. den flämischen Christdemokraten Leterme als neuen Ministerpräsidenten vorschlagen. Ein glanzloser, ein ungeliebter Politiker an der Spitze – wie kann das sein? Ein Blick zurück: Mit der Wahl vom 10. Juni vergangenen Jahres scheint in Belgien alles klar zu sein, die Zeichen stehen auf Wechsel.
Der Liberale Verhofstadt hatte eine Koalition ohne die Christdemokraten geführt, nach zwei Regierungen macht Leterme die flämische Schwesterpartei wieder zur stärksten Kraft im Bundesparlament. Der 47-jährige Vater von drei Kindern gilt als zielstrebig, offenherzig und fleißig. Er bringt eigentlich die besten Voraussetzungen mit, um zwischen den zerstrittenen Sprachgruppen zu vermitteln: Sein Vater stammt aus der französischsprachigen Wallonie, seine Mutter aus dem Niederländisch sprechenden Wallonien. Doch schon während des Wahlkampfes hatte Leterme versucht, auf Kosten des frankophonen Südens zu punkten. Ein Interview in der „Liberation“ nehmen ihm die Wallonen noch heute übel: Darin hatte er über seine französischsprachigen Landsleute gesagt, diese seien intellektuell unfähig Niederländisch zu lernen.
Kaum ein Fettnäpfchen bleibt aus
Auch nach seiner Wahl lässt Leterme kein Fettnäpfchen aus. Im Fernsehen verwechselt er die belgische mit der französischen Nationalhymne; bei einer Messe in der Kirche wird er beim Telefonieren erwischt, was ihm seine Landsleute übel auslegen. Der designierte Premier habe keine Manieren, heißt es.
Mehrfach scheitert der Versuch, eine Regierungskoalition auf die Beine zu stellen. Ausgerechnet seinem politischen Gegner Verhofstadt ist es zu verdanken, dass Leterme nun doch noch Ministerpräsident wird; der Liberale bringt die zerstrittenen Parteien schließlich wieder an den Tisch. Als dieser die erste Stufe der umstrittenen Staatsreform aushandelt, liegt Leterme wegen innerer Blutungen im Krankenhaus.
Viele Hürden zu überwinden
Stationen einer Karriere
Yves Leterme wird am 6. Oktober 1960 in Wervik, Flandern, geboren. Er studierte Rechtswissenschaften und Politische Wissenschaften an der Universität Genf.
Von 1987 bis 1989 arbeitet er als Rechnungsprüfer für den belgischen Rechnungshof. Anschließend beginnt er seine Karriere in der flämischen christdemokratischen Partei CD&V, damals noch CVP. 1992 geht Leterme in die EU-Kommission, bis er 1997 sein erstes Abgeordnetenmandat im flämischen Regionalparlament antritt 2004 wird er Ministerpräsident von Flandern. Er bringt die Region vor allem wirtschaftlich voran. So wird die Partei bei den Föderalwahlen am 10. Juni 2007 zur stärksten politischen Kraft des Landes.
Mittlerweile steht die Fünf-Parteien-Koalition, doch die Belgier wünschen sich ihren alten Premier zurück. Wie lange sich der neue, der ungeliebte an der Spitze halten kann, ist ungewiss. Beobachter munkeln, dass seine Amtszeit deutlich kürzer sein könnte als die neun Monate seit den Parlamentswahlen. Tatsächlich muss Leterme noch viele Hürden überwinden und mit den Interessen von fünf Parteien zu jonglieren: Der Regierung gehören nicht nur die Konservativen und Liberalen aus beiden großen Landesteilen an, sondern auch die frankophonen Sozialisten. Verhandlungen zu wichtigen Baustellen wie der Arbeitsmarkt oder das Gesundheitswesen stehen noch aus.
Am schwierigsten wird es aber sein, das Vertrauen der Bürger zurückzugewinnen: Nach einer Meinungsumfrage lehnen inzwischen 92 Prozent der Wallonen und selbst 54 Prozent der Flamen den designierten Regierungschef ab. Ein glanzvoller Start sieht anders aus.
Den Text "Leterme wackelt ins Amt" lesen Sie hier.