Essen. . Internationale Studie sieht das Revier als Gegenentwurf zu Mega-Citys. Zukunftsforscher: Eine Mischung aus mittelgroßen Städten funktioniert viel besser.

Das Ruhrgebiet als internationale Vorzeigeregion, als Metropolen-Laboratorium, das anderen Ballungsräumen auf der Welt als Vorbild dienen sollte. Das hört und liest man nicht oft, aber genau so beschreiben Wissenschaftler die Region, die man üblicherweise mit dem Vorwort „Problem“ versieht.

Das Hauptgutachten 2016 des „Wissenschaftlichen Beirats der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen“ (WBGU) hat die Entwicklung der weltweiten Mega-Städte untersucht. Ein ganzes Kapitel der mehr als 540 Seiten starken Analyse widmen die Forscher dem Ruhrgebiet.

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Im Gegensatz zu den Mammut-Metropolen der Welt wie Tokio, Kairo oder Sao Paulo, die an ihren Umwelt- und Infrastrukturproblemen zu ersticken drohen und politisch nahezu unregierbar geworden seien, biete die Struktur des Reviers mit seinen vielen kleineren Unterzentren ein zukunftsfähiges Modell.

Viele Kirchtürme als Modell

Die zahlreichen Kirchtürme und die sprichwörtliche, vom lokalen Blick geprägte Politik als internationales Vorbild, als Modell? So jedenfalls sehen es die Zukunftsforscher des WBGU.

Mehr als fünf Millionen Menschen leben in einem „kleinteiligen Mosaik aus erweiterten Stadtkernen“, beschreibt das Gutachten die Region, die ihren ländlichen Charakter nie ganz verloren habe. Geschlossene Industrieanlagen, kleine Bergbausiedlungen, offene Ackerflächen, dichte Waldgebiete, verwirrende Autobahnkreuze, Gewerbegebiete, Halden, Schienenstränge, Kanäle, Kühltürme und Gartenanlagen – so präsentiert sich die einstige Montanregion aus der Vogelperspektive. Als „Zwischenstadt“ bezeichnen die Autoren das Ruhrgebiet, eine Metropolregion ohne sichtbare Stadtgrenzen, ohne erkennbare Trennung zwischen Stadt und Land.

China will vom Revier lernen

Von einer „Renaissance des Ruhrgebiets“ spricht der Politikwissenschaftler Dirk Messner, Leiter des WBGU, Direktor des Bonner Instituts für Entwicklungspolitik (DIE) sowie Professor an der Uni Duisburg-Essen. „Wir romantisieren das Ruhrgebiet nicht“, betont er, aber vergleiche man es mit den „Brexit-Regionen“ in Großbritannien oder ehemaligen Industriestandorten wie Detroit in den USA, dann habe das Ruhrgebiet ei­nen phänomenalen Strukturwandel geschafft. „Wir haben hier keine Mega-City, die unregierbar ist. Die Mischung aus mittelgroßen Städten funktioniert deutlich besser als große Zentren.“ Es wäre daher ein großer Fehler, würde man das Ruhrgebiet zu einer zentral verwalteten Einheit umbauen.

Betrachte man das Ruhrgebiet aus internationaler Perspektive, würden die Chancen der Region deutlicher, führt Messner aus: „Viele Delegationen aus China besuchen uns, um zu sehen, wie aus ei­nem schwerindustriellen Ballungsraum eine Kultur- und Wissenschaftsregion geworden ist. Sie wollen lernen, wie man das macht. Und dass es hier Flüsse gibt, in denen man schwimmen kann, gilt dort als Wunder.“ Weltweit werde nach solchen Lösungen gesucht.

Vor allem die Ansiedlung zahlreicher Hochschulen in den 60er- und 70er-Jahren habe der Region neue Wege eröffnet. „Ohne diese Ansiedlungen wäre die Modernisierung der Wirtschaft nicht möglich gewesen.“ Das ermöglichte den Aufbau einer leistungsfähigen Industrie in der Energieeffizienztechnik, im Maschinenbau, in Logistik, Kommunikation oder Umweltschutz. Die Region bringe viele Abiturienten hervor und sei ein attraktiver Studienstandort.

Prekäre Lebensverhältnisse

Aber die Probleme will er nicht übersehen. Soll das Ruhrgebiet als Gesamtheit attraktiv bleiben, muss es seine „polyzentrische Struktur“ und die „Eigen-Art“ der Städte pflegen. Soll heißen: Auch die Unterzentren, die kleineren Städte und Vororte müssten ihre eigene Anziehungskraft behalten. „Da muss man investieren“, sagt Messner. Ein weiteres Problem drückt die Forscher: „Es ist nicht gelungen, den sozial abgehängten Menschen im Ruhrgebiet eine Perspektive zu bieten.“ Etwa 20 Prozent der Bevölkerung lebe in prekären Verhältnissen oder habe Angst, im Niedriglohnsektor zu landen. Auch hier sieht er die Politik in der Pflicht.

Trotz des oft eher rückwärtsgewandten Blicks vieler „Ruhris“ habe die Region den Aufbruch geschafft und zugleich einen kulturellen Wandel vollzogen. Das industrielle Erbe, die Zechen, Maschinenhallen und Hochöfen, werden als Stätten der Kultur neu genutzt. „Das ist einzigartig“, schwärmt Messner. „Die Ruhrtriennale ist zum Beispiel eine unglaubliche Erfolgsstory, eines der attraktivsten Kulturfestivals der Welt.“ So entstanden neue Anziehungspunkte, Arbeitsplätze, Lebensqualität und Wettbewerbsvorteile.

Für das Ruhrgebiet, das sich meist als benachteiligt oder abgehängt versteht, ist die Rolle als internationales Vorbild neu. Sich darin einrichten darf die Region sicherlich nicht.