Essen.. Die Bundesregierung möchte die Lebenssituation von Behinderten verbessern. Aber Betroffenen wie Carl-Wilhelm Rößler gehen die Pläne nicht weit genug.

Mit tiefer Enttäuschung reagieren Behinderte auf die Pläne der Großen Koalition für ein Bundesteilhabegesetz. Sie werfen der Regierung vor, es gehe ihr gar nicht um die versprochenen besseren Lebensbedingungen für Menschen mit Behinderungen, sondern bloß um Kostenbegrenzung. Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles (SPD) verteidigt hingegen die Pläne. Sie spricht von einem der „größten sozialpolitischen Vorhaben“ dieser Regierung.

Der Bund will den Menschen mit wesentlichen Behinderungen in Deutschland erlauben, Geld anzusparen. Im kommenden Jahr bis zu 25.000 Euro, später steigt dieser Freibetrag auf 50.000 Euro. Bisher müssen sie praktisch ihr ganzes Vermögen bis auf 2600 Euro verbrauchen, bis Sozialhilfe gewährt wird. Behinderte sollen auch mehr von ihrem Gehalt behalten dürfen.

Kritiker befürchten sogar Verschlechterungen

Kritiker befürchten unter anderem, dass Behinderte gezwungen werden könnten, aus Kostengründen in Wohngemeinschaften zu leben. „Nach den Plänen der Bundesregierung drohen für Menschen mit hohem Unterstützungsbedarf sogar Verschlechterungen“, sagte Thomas Tenambergen vom Vorstand des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes NRW, dieser Redaktion. Der Deutsche Behindertenrat und rund 80 Verbände übten vor einer Expertenanhörung am Dienstag im Bundesarbeitsministerium Kritik: Berlin plane ein Gesetz, das gegen die UN-Behindertenrechtskonvention verstoße.

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Ministerin Andrea Nahles (SPD) betonte, die große Mehrheit der Betroffenen profitiere davon. Ähnlich urteilt der Direktor des Landschaftsverbandes Westfalen-Lippe, Matthias Löb: „Das Gesetz ist ein behindertenpolitischer Meilenstein.“

Druck kommt aber auch von anderer Seite. So befürchtet der Deutsche Landkreistag eine „völlige Umgestaltung“ der Hilfe für Behinderte und damit eine „Verteuerung der Leistungen“. Der Städte- und Gemeindebund NRW warnt vor einem „Kostenaufwuchs“ für die Kommunen. Der Bund müsse sich stärker als geplant an den Kosten beteiligen.

Das Bundesteilhabegesetz betrifft alle Menschen mit Schwerbehinderungen -- insgesamt etwa zehn Prozent der Bevölkerung – besonders aber die rund 860 000 Menschen mit „wesentlichen Behinderungen“. Die Reform soll den Bund bis 2020 rund 1,7 Milliarden Euro zusätzlich kosten. Länder und Kommunen beteiligen sich mit 350 Millionen Euro.

Ein Gesetz mit Handicap

Carl-Wilhelm Rößler (48) aus Köln ist ein Mensch mit „hohem Unterstützungsbedarf“, wie es in der Behördensprache heißt. Der Jurist benötigt an seinem Ar­beitsplatz, zu Hause und in der Freizeit Hilfestellung. Sieben Helfer wechseln sich in 24-Stunden-Schichten ab. „Das reicht vom Anreichen von Wasser in der Nacht, über den Kauf der Kinokarte bis zum Besorgen von Akten auf der Arbeit“, erklärt Rößler.

Für Menschen wie ihn plant der Bund ein Gesetz. Ihre Lebenssituation soll verbessert werden, heißt es. Mehr „Teilhabe“ sollen sie bekommen, die Chance auf ein selbstbestimmtes Leben. Vom Bundesteilhabegesetz sollen 7,5 Millionen Schwerbehinderte in Deutschland profitieren, insbesondere aber die rund 860 000 Männer und Frauen mit „wesentlichen Behinderungen“. Wie Carl-Wilhelm Rößler.

So billig wie möglich?

Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles (SPD) feiert das geplante Bundesteilhabegesetz als eines der „größten sozialpolitischen Vorhaben“ der Regierung. Aber Carl-Wilhelm Rößler fällt ein vernichtendes Urteil: „Es herrscht praktisch überall die Denkweise: „So wenig und so billig wie möglich“, sagt er. Rößler befürchtet sogar Verschlechterungen für Menschen mit hohem Unterstützungsbedarf. „Die Assistenz kann zum Beispiel zusammengelegt werden. Wo es Schnittmengen gibt, also da, wo Behinderte zusammentreffen, könnte in Zukunft Personal eingespart werden. Etwa bei gemeinsamen Aktivitäten.“

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Am Ende, fürchtet Rößler, der in einer eigenen Wohnung lebt, könnte es so weit kommen, dass Behinderten-Wohngemeinschaften regelrecht „erzwungen“ werden. „Das würde gegen die UN-Behindertenrechtskonvention verstoßen.“ Nämlich gegen das Recht auf freie Entscheidung, wo und mit wem man leben möchte.

Dass die Eingliederungshilfe für Behinderte aus der Sozialhilfe herausgelöst werden soll, bewertet Rößler positiv. Aber: „Viele Vorschriften werden aus der Sozialhilfe einfach übernommen. Das ist alter Wein in neuen Schläuchen.“ Ohnehin blieben Menschen mit wesentlichen Behinderungen auch künftig mit einem Bein in der Sozialhilfe. „Die Pflegeversicherung reicht für Menschen, die einen hohen Unterstützungsbedarf haben, nicht aus. Alles, was darüber hinaus geht, liegt weiter bei der Sozialhilfe“, so Rößler. Diese Sozialhilfestrukturen führten dazu, dass die „volle und wirksame Teilhabe gleichberechtigt mit anderen“, wie sie in der UN-Behindertenrechtskonvention verankert ist, auf ei­nem „Basislevel“ bliebe.

Auch bei der Vermögensbildung ist Rößler skeptisch. „Vermögen anzusparen bleibt schwer.“ Die Anhebung der Einkommensgrenze auf 2600 Euro brutto im Monat würde für viele eher eine Verschlechterung bedeuten. Besondere behinderungsbedingte Bedürfnisse würden nicht mehr berücksichtigt Da barrierefreie Wohnungen teuer seien, bliebe am Ende womöglich weniger Geld übrig als bisher. 25 000 Euro anzusparen, sei fast unmöglich. „Die 50 000-Euro-Grenze für Vermögen ist ohnehin unrealistisch. Dieser Freibetrag bezieht sich nur auf die Eingliederungshilfe. Für die Pflege aber muss man Vermögen, das höher als 25 000 Euro liegt, selbst einbringen.“

„90 Prozent profitieren“

Ganz anders urteilt Matthias Löb, Direktor des Landschaftsverbandes Westfalen-Lippe (LWL), über das Bundesteilhabegesetz. „Es ist ein behindertenpolitischer Meilenstein und längst überfällig. Es markiert den Abschied vom reinen Fürsorgerecht“, sagt Löb. Der Begriff Teilhabe verändere sich gründlich. „Er beschränkt sich nicht mehr auf Wohnen und Arbeiten, sondern umfasst auch das Recht auf Kultur, Freizeit, Mobilität und Vermögensbildung“, so Löb. Mehr als 90 Prozent der Menschen mit wesentlichen Behinderungen würden mit diesem Gesetz gut klarkommen.

Das geplante Bundesteilhabegesetz - Fragen und Antworten

Was steht im Gesetzentwurf?

Im Kern geht es darum, die Rechte von Menschen mit Behinderungen zu stärken. Sie sollen selbst bestimmen können, wo und wie sie leben. Sie sollen „Hilfe wie aus einer Hand“ bekommen. Das heißt, dass nur noch ein Ansprechpartner für die Beratung zuständig ist und nicht drei oder vier. Das soll Zuständigkeitskonflikte und Doppelbegutachtungen vermeiden. Menschen mit Behinderungen sollen sparen und mehr von ihrem Einkommen behalten können. Dafür müssen sie sich aber mit einem Eigenbetrag an den Leistungen beteiligen. Ab 2020 soll Menschen mit Behinderungen im Schnitt bis zu 300 Euro mehr im Monat zur Verfügung stehen.

Wie viel kostet die Reform?

Die Ausgaben für die Eingliederungshilfe sind stark gestiegen auf zuletzt 16,4 Milliarden Euro im Jahr. Die Reform würde den Bund bis zum Jahr 2020 noch einmal zusätzlich 1,7 Milliarden Euro kosten.

Was sagen Betroffene?

Der Deutsche Behindertenrat befürchtet, dass einzelne Bundesländer nur reduzierte Leistungen anbieten werden. Außerdem bestehe das Risiko, dass Leistungen nur ei­ner Gruppe von Behinderten angeboten werden könnten und nicht Einzelpersonen (Zwang zur Gemeinschaft). Die Heranziehung von Einkommen und Vermögen von Behinderten lehnt der Rat komplett ab. Die Ausgleichsabgabe für Firmen, die keinen Schwerbehinderten beschäftigen, soll deutlich erhöht werden. Sie beträgt heute maximal 320 Euro pro unbesetztem Arbeitsplatz.