Essen. . Seine Warnung vor einer Flüchtlings-Lawine hat Bundesfinanzminister Schäuble in die Kritik gebracht. Schon der Begriff “Flüchtlinge“ ist umstritten.
Als vor ein paar Wochen eine Schlammlawine in einem Vorort von Guatemala-Stadt über 100 Häuser zerstörte und mehrere Hundert Menschen verschüttete, war das ein Bild von Tod und Zerstörung; man muss kein Foto sehen, um es vor Augen zu haben. Auch Schneelawinen haben zerstörerische Kraft; sie reißen mit und zermalmen, was ihnen im Weg ist. Aber ist es ein zutreffendes Bild, von einer Flüchtlings-"Lawine" zu sprechen? Was bewirken diese Ausdrücke, welche Bilder erzeugen sie im Kopf?
Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble (CDU) hat mit seiner Warnung vor einer Flüchtlings-"Lawine" jüngst für einen Sturm der Empörung gesorgt. Flüchtlinge dürften nicht mit Naturkatastrophen verglichen werden, kritisierten etwa Schäubles Kabinettskollegen Sigmar Gabriel und Heiko Maas (beide SPD). Auch Bundespräsident Joachim Gauck kritisierte am Donnerstag beim Besuch eines Flüchtlingsheims in Bergisch-Gladbach laut der Nachrichtenagentur dpa, er halte solche Vergleiche als "Horrorszenarien und negativen Stereotype" für gefährlich. Damit würde der Eindruck erweckt, dass wir nicht in der Lage seien, den kommenden Herausforderungen zu entsprechen.
"Lawine" suggeriert Bedrohung
Aus Sicht von Sprachwissenschaftlerin sind zusammengesetzte Wörter wie zum Beispiel Flüchtling und -Krise, -Welle oder -Katastrophe immer "hochproblematisch". Weil sie zwei Konzepte zusammenbringen und eine Bedeutungsverbindung zwischen ihnen herstellen. Ein Wort wie Flüchtlings-Lawine suggeriert damit, dass die betreffende Menschengruppe selbst eine Gefahr darstellt, die es zu bekämpfen gilt. "Politiker wie Wolfgang Schäuble, denen man unterstellen darf, dass sie eine politische Herausforderung bezeichnen wollen und ganz sicher nicht gegen hilfesuchende Menschen hetzen wollen, sollten solche Ausdrücke vermeiden", meint der Düsseldorfer Sprachwissenschaftler Dr. Kersten Roth, der auch Mitglied der Jury des "Unwort des Jahres" ist.
"Die ,Flüchtlingskrise' ist auch eine Sprachkrise", sagt dazu Jana Tereick, Sprachwissenschaftlerin an der Universität Vechta. Denn der Versuch, neutral oder möglichst wertfrei über das derzeitige Geschehen zu sprechen, ist zum Scheitern verurteilt: "Man ist gezwungen, Position zu beziehen, schon durch die Wahl seiner Ausdrücke". Dabei sei dann sprachkritisch zu hinterfragen, ob Begriffe wie Flüchtlings-Welle oder -Katastrophe tatsächlich der Sachlage entsprechen. 1996 etwa wurde das Wort "Rentnerschwemme" zum "Unwort des Jahres gekürt". Die Jury kritisierte es als "falsches, angstauslösendes Naturbild für einen sozialpolitischen Sachverhalt".
"Geflüchtete" statt "Flüchtlinge"?
Schon das Wort "Flüchtlinge" wird laut Tereick kritisiert. Da es durch die Wortbildung als abwertend wahrgenommen werde, würden Betroffene und Initiativen eher "Geflüchtete" oder "Refugees" verwenden. Tereick spricht auch selbst von "Geflüchteten", um die gemeinten Personen "nicht auf ihre Flucht zu reduzieren. Zudem vermeide dieses Wort den Konflikt mit der juristischen Bedeutung des Begriffs Flüchtling.
Sprache, sagt Tereick, ist immer Ausdruck einer Haltung zum betreffenden Gegenstand. Und natürlich kann man dem Bundesfinanzminister unterstellen, dass seine Wortwahl von der Flüchtlings-Lawine bewusst war und beabsichtigt. So ist es ein Zeichen für die angespannte Lage derzeit, dass auch Begrifflichkeiten zu Auseinandersetzungen führen. In den 1990er Jahren etwa hat eine ähnliche Situation dazu geführt, dass der Begriff "Asylant" letztlich als verpönt galt, weil er ausländische Flüchtlinge diffamierte.
"Über Wörter werden semantische Kämpfe ausgetragen" - das muss einem nicht mal bewusst sein, meint Sprachwissenschaftlerin Jana Tereick. Umso mehr sei es deshalb nötig, seine Sprache kritisch zu hinterfragen.