Köln. Die bei einer Messer-Attacke schwerverletzte Kandidatin Henriette Reker erhält 52,7 Prozent der Stimmen und hat damit die erforderliche Mehrheit.
- Die am Samstag bei einem Attentat verletzte Henriette Reker hat bei der OB-Wahl in Köln die absolute Mehrheit erreicht
- Reker war bei dem Messerangriff schwer am Hals verletzt worden
- Wahlbeteiligung lag bei knapp 40 Prozent
Während Henriette Reker nach einem Mordanschlag noch im künstlichen Koma liegt, haben die Wähler in Köln sie zu ihrer neuen Oberbürgermeisterin gewählt. Die 58-Jährige setzte sich am Sonntag gleich im ersten Wahlgang gegen sechs weitere Bewerber durch und erreichte mit 52,7 Prozent die absolute Mehrheit. Sie ist damit die erste Frau auf dem Chefsessel im Rathaus der viertgrößten Stadt Deutschlands.
Damit jagte ein Bündnis aus CDU, Grüne und FDP der SPD den Chefposten im Rathaus der Domstadt ab. Schon bei den Oberbürgermeisterwahlen vor wenigen Wochen hatte die SPD ihre Hochburgen Oberhausen und Bonn an die CDU verloren.
Wahlsiegerin in einer langsamen Aufwachphase
Am Samstag war Reker bei einer Wahlkampfveranstaltung von einem 44-Jährigen mit einem Messer angegriffen und schwer verletzt worden. Ein Richter erließ inzwischen Haftbefehl wegen versuchten Mordes gegen den mutmaßlichen Täter, der laut Polizei fremdenfeindliche Motive nannte. Reker ist derzeit als Sozialdezernentin für die Unterbringung von Flüchtlingen in Köln zuständig. Bei der Wahl wurde sie unterstützt von CDU, FDP und den Grünen. Ihr SPD-Kontrahent Jochen Ott lag bei 32,0 Prozent.
Während ihre Unterstützer im Rathaus den Wahlsieg feierten, teilten die behandelnden Ärzte mit, dass sich Rekers Gesundheitszustand positiv entwickele. Ein Sprecher Rekers sprach von einer "langsamen Aufwachphase" aus dem künstlichen Koma. Aus dem Umfeld der Politikerin hieß es, ihr Ehemann bringe ihr den Sieg schonend am Krankenbett bei.
Wann Reker ihr neues Amt antreten kann, ist noch völlig unklar. Die Ärzte betonten: "Der Heilungsverlauf nimmt bei einer Verletzung dieser Art üblicherweise eine gewisse Zeit in Anspruch."
Insgesamt waren mehr als 800 000 Menschen in Köln aufgerufen, zur Wahl zu gehen. Die Wahlbeteiligung lag bei 40,3 Prozent. 2009 stimmten 49,1 Prozent ab - damals wurde mit SPD-Mann Jürgen Roters jedoch nicht nur ein neuer OB gewählt, gleichzeitig stand auch die Kommunalwahl an.
Anhänger im Wirbel der Emotionen
Zahlreiche Politiker gratulierten Reker zur Wahl. "Eine couragierte und mutige Frau hat gewonnen und noch dazu eine Parteilose, das hat Strahlkraft und Auswirkungen für das Land", sagte der NRW-Vorsitzende der Grünen, Sven Lehmann. "Ich glaube, dass sie aus Überzeugung gewählt wurde, nicht aus Mitleid."
FDP-Parteichef Christian Lindner betonte, Reker werde OB, weil sie "glaubhaft einen Neuanfang für Köln verkörpert, der alte Seilschaften überwindet."
Das bunte Parteien-Bündnis aus CDU, Grünen und FDP, das sie unterstützt hat, wirkt in der Freude über den historischen Tag arg verunsichert. Einige singen „So ein Tag, so wunderschön wie heute“, andere beschwören ernst den Tag des parteiübergreifenden Neunanfangs gegen den berühmten kölschen Klügel.
„Wir sind im Herzen bei Henriette“, sagt die Kölner Regierungspräsidentin Anne Lütkes (Grüne), die das Reker-Bündnis angeführt hatte. Sie steht in engem Kontakt zu Rekers Ehemann. Und dann entfährt Lütkes noch der passend seltsame Satz: „Sie hat ein Recht auf Ruhe, doch wir haben ein Recht auf Freude.“
Für den nordrhein-westfälischen CDU-Oppositionsführer Armin Laschet haben die aufwühlenden Ereignisse des Wochenendes eine dreifache Botschaft. Erstens: „Man kann anderer Meinung in der Flüchtlingspolitik sein, doch Demokraten müssen sich von Scharfmachern fernhalten.“ Zweitens: „Köln bekommt den ersehnten Neuanfang.“ Drittens: „Über Parteigrenzen hinweg ist hier etwas menschlich zusammengewachsen.“#
Was Rekers Sieg für die Kölner Kommunalpolitik bedeutet, bleibt wohl bis zu ihrer vollen Genesung unklar. Im Rat arbeitet die abgestrafte SPD bislang noch mit Grünen und Piraten zusammen. Ob Reker eine neue Mehrheit schmiedet? Wer die Lokalpolitiker von CDU, FDP und Grünen beim Wahlsieger-Kölsch wieder und wieder über das Messer-Attentat reden hört, mag sich kaum vorstellen, dass sie von kommender Woche an wieder gegeneinander Lokalpolitik machen.
Täter offenbar aus dem rechten Spektrum
Gegen den 44-jährigen Täter wurde am Sonntagnachmittag Haftbefehl wegen versuchten Mordes erlassen. Laut Polizei nannte er fremdenfeindliche Motive für seine Tat. Er habe ausgesagt, in den 1990er Jahren in der rechten Szene aktiv gewesen zu sein, Details habe er aber nicht genannt, teilten die Ermittler weiter mit. Nach einem unbestätigten Bericht soll der Angreifer in den 1990er Jahren bei einer später verbotenen Neonazi-Gruppe, der Freiheitlichen Deutschen Arbeitspartei (FAP), mitgemacht haben. Zuletzt sei der Mann mit ausländerfeindlichen Kommentaren im Internet aufgefallen.
Der Rechtsextremismus-Forscher Professor Hajo Funke wies im Gespräch mit dem Kölner "Express" auf einen möglichen Zusammenhang zwischen den fremdenfeindlichen Bewegungen der letzten Monate und derartigen Taten hin. "Pegida war der Katalysator für eine neu entstandene Stimmung der Verrohung, für eine Schwemmung der Ressentiments und eine Absenkung der Hemmschwelle. Durch diese Stimmung werden Taten wie in Köln gefördert", sagte er.
Bosbach beklagt Zunahme von Attacken gegen Politiker
Der CDU-Politiker Wolfgang Bosbach beklagte eine Zunahme von Angriffen auf Politiker. "Ich bin seit 43 Jahren in der Politik, seit 21 Jahren im Bundestag. Ohne zu dramatisieren: Der Ton wird rauer. Es hat immer wieder Beleidigungen oder Drohungen gegeben, aber nicht in einer solchen Massivität", sagte Bosbach dem Kölner "Express" (Montag).
Der Flüchtlingskoordinator der Bundesregierung, Peter Altmaier (CDU), rief zum Widerstand gegen Fremdenfeindlichkeit auf. "Der Anschlag ist verachtenswert und abscheulich", sagte der Kanzleramtsminister den Zeitungen der Funke Mediengruppe. "Auch wenn wir die genauen Hintergründe noch nicht kennen: Wir müssen uns zu jedem Zeitpunkt deutlich abgrenzen von jeder Form von Ausländerfeindlichkeit und Gewalt." (tobi/dpa)