Straßburg. Kanzlerin Angela Merkel und Frankreichs Präsident Francois Hollande werben vor dem EU-Parlament für mehr Solidarität angesichts der Flüchtlingskrise.

Europa stehe „vor einer Bewährungsprobe historischen Ausmaßes“, sagte die Bundeskanzlerin. „Wir dürfen in der Flüchtlingskrise nicht der Versuchung erliegen, in nationalstaatliches Handeln zurückzufallen. Ganz im Gegenteil: Jetzt brauchen wir mehr Europa!“. Hollande erinnerte an Mitterrands berühmte Ermahnung an das EU-Parlament: „Nationalismus bedeutet Krieg – das gilt heute noch.“

Auch interessant

Als die Idee zu dem Doppel-Auftritt im Januar bei einem gemeinsamen Abendessen in Straßburg geboren wurde, war keinem der Beteiligten klar, dass die Europäische Union zum Zeitpunkt der Verwirklichung im Herbst in einer tiefen, für ihre Existenz bedrohlichen Krise stecken würde. Erst die Völkerwanderung nach Europa seit dem Sommer machte Merkels und Hollandes Auftritt zum „historischen Besuch in einer historisch schwierigen Zeit“ (Parlamentschef Martin Schulz). So stellten beide Redner – Merkel stärker als Hollande - die Flüchtlingskrise in den Mittelpunkt ihrer jeweils rund halbstündigen Reden.

Merkel: "Abschottung funktioniert nicht"

Die Kanzlerin warnte vor jedem Versuch der Abschottung. Das sei erstens illusorisch und bedeute zweitens „Verrat an uns selbst“. Noch deutlichere Worte hatte die CDU-Chefin zuvor in der christdemokratischen EVP-Fraktion gefunden. Für eine Totalverweigerung osteuropäischer Staaten bei der Aufnahme von Flüchtlingen oder den gezielten Ausschluss von Muslimen habe sie „als Osteuropäerin“ überhaupt kein Verständnis. „Wir haben es doch erlebt: Abschottung funktioniert nicht!“ Hollande erklärte vor dem Plenum: „Es gibt keine Grenzen, keinen Stacheldraht, der hoch genug ist … Die Rückkehr zu Binnengrenzen wäre ein tragischer Fehler.“

Immer wieder bezogen sich beide Redner auf den ersten gemeinsamen Besuch ihrer Vorgänger in Straßburg. Kohl hatte ebenfalls „Ereignisse von geschichtlicher Tragweite“ beschworen, als er am 22. November 1989 vor der Volksvertretung der - damals erst zwölf - EU-Staaten sprach. Gemeint war der Fall der Mauer und des Eisernen Vorhangs, das sich abzeichnende Ende der Spaltung des Kontinents und damit die Verpflichtung, den Osten in den bislang rein westlichen Staatenverbund EU aufzunehmen.

"Schöne moralische Geste"

Auch damals habe es Ängste und Skepsis gegeben, erinnerte die Kanzlerin, nicht zuletzt wegen Sorgen vor der Freizügigkeit für die Bürger Mittel- und Osteuropas. Doch „die Kraftanstrengung“ habe sich gelohnt. Die Überwindung des Ost-West-Gegensatzes sei „eine gigantische Erfolgsgeschichte … sie zeigt uns, was möglich ist!“

Donald Tusk, Präsident des Europäischen Rats und damit Gipfel-Organisator, hatte am Vortag die Latte für Hollande und Merkel hoch gelegt. Auf die „schönen moralischen Gesten“, mit denen sie sich breite Anerkennung verdient hätten, folge jetzt „eine noch härtere Prüfung: eine Prüfung in Verantwortungsbereitschaft für den Schutz der europäischen politischen Gemeinschaft und ihre Außengrenzen. Sonst werden sie, und wir alle, verantwortlich sein für die Wiedererrichtung von Mauern und Sperren an unseren internen Grenzen“.

Merkel wie Hollande bekannten sich denn auch zu einem verstärkten Schutz der Außengrenzen. Die Kanzlerin erneuerte freilich zugleich ihr Bekenntnis zum humanen Umgang mit allen Ankommenden. Ungeachtet ihres jeweiligen Bleiberechts müsse man „in ihnen Menschen sehen und nicht irgendeine Masse“.