Berlin. . Deutschland diskutiert, ob seine Einwanderungspolitik die Flüchtlingsströme in Bewegung gesetzt hat. Doch die stärksten Faktoren liegen woanders.
Chaotische Szenen an den Grenzen, gesperrte Zugverbindungen und täglich Zehntausende von Neuankömmlingen. Eine Woche, nachdem Deutschland den Flüchtlingen aus Ungarn die Tür geöffnet hat, ist kein Ende des Zustroms in Sicht – im Gegenteil: Flüchtlingsexperten rechnen damit, dass die Zuwanderungswelle weiter anhält – über die Balkanroute, aber auch über das Mittelmeer.
So ereignete sich vor der griechischen Insel Farmakonisi eine weitere Flüchtlingstragödie. Nach dem Kentern eines Flüchtlingsboots entdeckte die Küstenwache mindestens 38 Leichen, darunter viele Kinder und auch vier Säuglinge. „Meine Kollegen finden immer mehr Menschen, die ertrunken sind“, sagte ein Offizier der Küstenwache. Die Rettungsmannschaften konnten 68 Menschen aus den Fluten retten. 29 Flüchtlinge schwammen zur Insel Farmakonisi.
Entspannnung, wenn das Wetter schlechter wird
Auch im nächsten Jahr muss sich Deutschland wieder auf viele Flüchtlinge einstellen, die über die Balkanroute kommen. „Es ist nicht zu erwarten, dass die Zahlen kurz- oder mittelfristig kleiner werden“, sagte Martin Rentsch vom Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen (UNHCR) unserer Redaktion.
Das UNHCR rechnet damit, dass sich die Lage zumindest vorübergehend entspannt, sobald das Wetter im Herbst deutlich schlechter wird. Die Flucht über den Balkan sei für Frauen, Kinder und ältere Menschen jetzt schon extrem anstrengend und gefährlich. Ein Kälteeinbruch mit Dauerregen setzte in den vergangenen Tagen Tausenden von Flüchtlingen in Serbien und Mazedonien zu. Im Herbst wird vor allem die Überfahrt von der Türkei nach Griechenland immer schwieriger. „Wir erwarten aber frühestens im Oktober, dass sich die Situation stabilisiert, dass weniger Menschen die Strapazen der Balkanroute auf sich nehmen.“
Lage in Syrien wird immer schlimmer
Es liegt nicht nur an der humanitären Türöffnung der Kanzlerin und am deutschen Wohlfahrtssystem, dass ausgerechnet jetzt so viele Flüchtlinge unterwegs sind. Auch die Lage in Syrien und seinen Nachbarländern verschärft sich: „Die Sicherheitslage wird schlechter“, heißt es beim UNHCR.
Der IS rückt vor, Angst und Gewalt regieren den Alltag, der Bürgerkrieg raubt immer mehr Menschen ihr Zuhause und ihre Existenzgrundlage. Arbeitslosigkeit und Inflation steigen rasant an, die syrische Währung hat 90 Prozent ihres Wertes eingebüßt. In vielen Teilen des Landes gibt es nur für wenige Stunden Strom, das Wasser ist knapp. „Die Menschen versuchen, zu entkommen“, so Rentsch. Beschleunigt wird die Fluchtdynamik von immer professioneller agierenden Schleppern und dem schnellen Informationsfluss in den sozialen Netzwerken.
Aufbruchstimmung in den Flüchtlingslagern
Mit Sorge schauen die UN-Experten aber auch auf die vier Millionen Syrer, die in den letzten Jahren in die Nachbarländer geflohen sind. „Kurzfristig muss man nicht mit einem Massenexodus rechnen“, heißt es beim Flüchtlingshilfswerk. Aber: „Einige tragen sich mit dem Gedanken ihre Zelte abzubrechen und die Region Richtung Europa zu verlassen“, so UNHCR-Sprecher Rentsch. „Je schlechter es den Menschen geht, desto mehr überlegen sie sich, wie sie die nächsten Monate überstehen werden.“
Laut UNHCR sind derzeit rund vier Millionen syrische Flüchtlinge in den Nachbarländern registriert. Die meisten hat die Türkei aufgenommen – 1,9 Millionen. Im Libanon leben 1,1 Millionen, in Jordanien 630 000, der Irak hat 250 000 aufgenommen, Ägypten 130 000. Rund 25 000 Menschen sind nach Nordafrika geflohen. In Jordanien werde die Lage für die rund 500 000 Syrer, die sich außerhalb der Flüchtlingslager befinden, immer aussichtsloser. 86 Prozent von ihnen leben unterhalb der nationalen Armutsgrenze. Folgen: Flüchtlinge kaufen vermehrt Essen auf Kredit, nehmen ihre Kinder aus der Schule, damit sie betteln gehen können.