Essen. Mehr Unterricht und Betreuung: Experten und Trainer der Region sehen die Ursachen für Bewegungsarmut von Schülern im Wandel des Bildungssystems.

Kinder und Jugendliche bewegen sich im Schnitt weniger als 30 Minuten am Tag, verbringen aber bis zu sieben Stunden im Sitzen. Der am Freitag in Essen vorgestellte Dritte Deutsche Kinder- und Jugendsportbericht beschreibt einen alarmierenden Trend zur Bewegungslosigkeit junger Menschen. Schuld daran sind den Experten zufolge nicht allein die Familien, sondern auch die deutsche Bildungspolitik mit ihrem Ziel, Kinder so früh und so lange wie möglich in Kitas und Schulen unterzubringen.

Kinder verbringen immer mehr Zeit in Bildungseinrichtungen

Der Ausbau von Ganztagsschulen, die Verkürzung der Gymnasialzeit und die damit verbundene Verlagerung von Unterricht in den Nachmittag sowie die Betreuung selbst kleinster Kinder in Kitas begünstigten diese Entwicklung. „Heranwachsende verbringen immer mehr Zeit in Bildungseinrichtungen, bewegen sich dort aber immer weniger ihrem Alter entsprechend“, sagte der Sportwissenschaftler Werner Schmidt von der Universität Duisburg-Essen.

Die Zusammenarbeit zwischen Schulen und Sportvereinen funktioniert nach Einschätzung der Experten noch nicht gut genug. Alfons Hörmann, Präsident des Deutschen Olympischen Sportbundes, sprach offen von einem „Konfliktfeld“ zwischen Schule und Sport. Es gebe zu viele „Berührungsängste“. Dabei stünden bundesweit bis zu 600 .000 qualifizierte Übungsleiter zur Verfügung, die Lehrer und Ganztagsbetreuer unterstützen könnten.

Der Zeitaufwand für Schule und Sport stresst viele Schüler

Die Sportvereine hätten unter diesen Bedingungen immer weniger Chancen, Nachwuchs an sich zu binden. Außerdem setzten der Boom der Trendsportarten und die vielen kommerziellen Fitnessangebote die Vereine noch zusätzlich unter Druck. Der Sportbericht weist auch auf eine extreme Überlastung einiger junger Leistungssportler hin. Für Schule und für Training müssten sie bis zu 80 Stunden in der Woche einplanen. Folge: Stress, gegebenenfalls auch psychische Probleme und schlechte Noten. Politik und Öffentlichkeit schauten meist nur auf die Sieger und die herausragenden Talente. „Wer aber im Leistungssport scheitert, der erlebt dieses Scheitern als kritisches Lebensereignis. Um diese Menschen kümmern wir uns viel zu wenig“, sagte Sportprofessor Werner Schmidt.

Ein weiterer Kritikpunkt: Die Integrationschance, die der Sport gerade jungen Migranten und Kindern aus armen Familien bieten könnte, werde noch zu selten genutzt.

Persönliche Erfahrungen von Trainern aus dem Ruhrgebiet 

„Schüler haben eine ähnliche Arbeitswoche wie Manager. 50 Stunden sind fast Standard“, sagt Stefan Masson, Trainer im Westfälischen Tennisverband. „Schule bis 16 Uhr, Hausaufgaben, Lernen und dreimal die Woche Sport“, sagt er. Da bleibe das Training häufig auf der Strecke. Auf Nachfrage bei Vereinen im Ruhrgebiet zeichnet sich der Konsens ab, dass die freie Zeit für Sport wegen der schulischen Belastung eingeschränkt ist. „Die Kinder sind oft müde, gestresst und können sich nicht konzentrieren“, erklärt Manuel Möbes, Basketball-Trainer beim ETB Schwarz-Weiß Essen.

Die Offene Ganztagsschule schränkt die freie Zeit für Sport ein

Oft könne der Nachwuchs zu Nachmittags-Trainingszeiten nicht erscheinen. Als Hauptgrund nennen die Trainer die Offene Ganztagsschule (OGS). „Es ist zu hektisch für Schüler, nachmittags zum Training zu hetzen. Da wir aber auf die Hallenzeiten der Stadt angewiesen sind, trainieren wir sowohl um 16.30 Uhr als auch um 18 Uhr“, so Möbes.

Angela Sommerfeld, Turn-Trainerin beim TSV Viktoria in Mülheim, sieht zudem „G8“ als Problem. „Früher war es Pflicht, dreimal pro Woche zu trainieren, heute ist es anders.“ Den Sportlern sei selber überlassen, ob sie zum Training erscheinen. Vor allem die Oberstufe nehme sehr viel Zeit in Anspruch. „Auch die Eltern sind ängstlicher geworden, besonders beim Übergang in die weiterführende Schule.“ Stefan Masson hingegen empfindet den von den Eltern ausgehenden Leistungsdruck als störend. „Viele Kinder sind überfordert. Dann ziehen wir die Notbremse und schenken den Eltern reinen Wein ein. Nicht jeder kann ein Boris Becker werden.“

Sportvereine haben an Bedeutung verloren 

Eigentlich müsste man sich um den Sport keine Sorgen machen. Dem neuen „Deutschen Kinder- und Jugendsportbericht“ zufolge lieben 90 Prozent der jungen Menschen dieses Schulfach. Und selbst wenn dies übertrieben sein sollte – Anreize, sich zu bewegen, gibt es überall: Fitnessstudios und Skateranlagen, Tanz- und Kampfsportschulen. Wer möchte, kann Wände und Bäume hochklettern oder mit dem Mountainbike Waldpisten pflügen. 90.000 Sportvereine sind offen für Aktive. Dennoch ist die Bilanz des Sportberichts ernüchternd: „Kinder und Jugendliche verbringen mehr Zeit als früher im Sitzen.“ Warum ist das so?

Institutionalisierung der Kindheit

Thomas Rauschenbach vom Deutschen Jugendinstitut sprach am Freitag bei der Vorstellung des Berichts in der Villa Hügel von einer „Institutionalisierung der Kindheit“. Jungen und Mädchen verbringen weniger Zeit spielend auf der Straße oder im Verein, dafür aber mehr Zeit in Schulen und Kitas. Der Fokus dort scheint aber zu selten auf dem Sport zu liegen.

2003 waren bundesweit noch weniger als 5.000 Schulen im Ganztagsbetrieb. Heute sind es mehr als 16. 000. Das hat Folgen auch für die Vereine. Früher galt: vormittags Schulsport, nachmittags Vereinssport. Das ist heute nicht mehr so. Zwar arbeiten 71 Prozent der Ganztagsschulen mit einem, wie es heißt, „Partner aus dem Bereich des Sports“ zusammen. Aber Schule und Verein begegneten sich selten auf Augenhöhe. Es wäre eine professionellere Kooperation zwischen den Beteiligten möglich und nötig, meinen Experten.

Sportpflicht für Öffentlichen Dienst?

Werner Schmidt, Sportprofessor an der Uni Duisburg-Essen, erkennt ein grundsätzliches Problem zwischen Bildungspolitik und Sport. „Mit der Pisa-Diskussion verliert der Sport an Bedeutung zugunsten der Hauptfächer“, sagt er. Inzwischen hätten elf von 16 Bundesländern den Grundschul-Sportunterricht auf zwei Stunden gekürzt. Und von diesen zwei Stunden falle jede vierte aus.

Sport werde auch von vielen Eltern nicht ernst genommen. „Wenn eine Lateinstunde ausfällt, schreien alle laut auf. Beim Ausfall einer Sportstunde schreit keiner“, so Schmidt. In den Kitas sei die Situation ähnlich. „Viele Erzieherinnen haben ein falsches Bild von Sport. Es wäre gut, wenn alle Erzieherinnen jeden Tag Bewegung draußen und drinnen zuließen.“

Über Sport lernen, was Leistung und Kameradschaft bedeutet

Bundesinnen- und Sportminister Thomas de Maizière (CDU) brachte sogar „Sport als Pflichtfortbildung für den gesamten Öffentlichen Dienst“ ins Gespräch. Polizisten, Lehrer, Erzieherinnen sollten ständig daran erinnert werden, wie wichtig Bewegung ist. De Maizière betonte den Stellenwert des Sports in der Gesellschaft. „Es gibt für Kinder und Jugendliche nichts besseres, als über den Sport zu lernen, was Leistung ist, aber auch, was Kameradschaft bedeutet.“ Das zu fördern sei Aufgabe des organisierten Sports, der Kindergärten, Schulen und Eltern.

Der Sportbericht wirft auch die Frage auf, wie „verantwortbar“ es sei, junge Leistungssportler mit wöchentlich 75 bis 80 Stunden „Arbeitszeit“ zu belasten. Der Trainingsaufwand liege in manchen olympischen Disziplinen – Schwimmen, Rudern, Turnen – bei bis zu 35 Stunden in der Woche. Hinzu kommen 34 Wochenstunden Schule und gegebenenfalls elf Stunden Ganztag. Es drohten Gefahren für Körper und Psyche.

Initiiert wurde der Deutsche Kinder- und Jugendsportbericht von der "Alfried Krupp von Bohlen und Halbach"-Stiftung.