Straßburg. Vincent Lambert darf sterben: Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte billigt, dass die Ernährung des Wachkoma-Patienten eingestellt wird.

„Von Freude kann keine Rede sein, nicht einmal von Erleichterung. Aber wenigstens kann nun dem Willen meines Mannes entsprochen werden“, seufzt Chantal Lambert nach der Urteilsverkündung. Ihr Blick geht hinüber zu ihrer Schwiegermutter, die mit steinerner Miene den Kopf schüttelt.

Soeben hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) entschieden, dass Chantals Ehemann Vincent Lambert sterben darf. Der 38-Jährige dämmert schon seit einem schweren Verkehrsunfall im März 2008 querschnittsgelähmt im Wachkoma dahin. Sein Schicksal sorgt in Frankreich seit beinahe drei Jahren für heftige Diskussionen und hat seine Familie völlig entzweit.

Vincent Lamberts Eltern schalteten die Justiz ein

Ende 2012 hatten Lamberts Ärzte im Klinikum von Reims gemeinsam mit der Ehefrau beschlossen, die künstliche Ernährung des Komapatienten einzustellen. Auch zwei seiner Geschwister hatten sich für diesen Schritt ausgesprochen. Doch die streng katholischen Eltern Vincents sowie zwei weitere seiner Geschwister schalteten die Justiz ein, weil sie einen Stopp der lebensverlängernden Maßnahmen als „verkappte Euthanasie“ ansehen.

So ist die Sterbehilfe in Europa geregelt

Belgien

Belgiens Parlament verabschiedete 2002 eines der liberalsten Sterbehilfe-Gesetze in Europa. Es erlaubt erwachsenen unheilbar kranken Patienten die Tötung auf Verlangen, wenn Ärzte unerträgliche Leiden bescheinigen. Seit 2014 gilt das Gesetz auch für Minderjährige.

Dänemark

Dänemark hat die passive Sterbehilfe 1992 gesetzlich geregelt. Jeder kann lebensverlängernde Maßnahmen - wie künstliche Beatmung - mit einer schriftlichen Erklärung ausschließen. Patienten können auch dann schmerzstillende Mittel bekommen, wenn diese den Tod beschleunigen.

Deutschland

Deutschland hat die aktive Sterbehilfe verboten. Wer jemanden auf dessen Wunsch tötet, wird mit bis zu fünf Jahren Haft bestraft. Passive Sterbehilfe hingegen ist erlaubt. Laut Bundesgerichtshof dürfen Ärzte die Maßnahmen auch dann abbrechen, wenn der Patient noch nicht kurz vor dem Tod steht.

Frankreich

Frankreich hat die passive Sterbehilfe erlaubt, aktive Sterbehilfe aber verboten. Auf Wunsch des Patienten kann eine medizinische Behandlung abgebrochen werden, auch wenn das den Tod beschleunigt.

Luxemburg

Luxemberg erlaubte die aktive Sterbehilfe 2009 als drittes Land in Europa. Ein Arzt darf Schwerstkranken auf deren Wunsch helfen, ihr Leben zu beenden. Allerdings müssen zwei Ärzte unabhängig voneinander feststellen, dass eine Heilung ausgeschlossen ist. Zudem muss der Patient seinen Todeswunsch mehrfach niederschreiben.

Niederlande

Die Niederlande verabschiedeten ihr Sterbehilfegesetz im April 2002 als erstes Land der Welt. Für Schwerstkranke ist aktive Sterbehilfe seitdem legal. Die Forderung einer Bürgerinitiative, Menschen ab 70 Jahren generell das Recht auf Sterbehilfe einzuräumen, scheiterte 2012 im Parlament.

Österreich

In Österreich ist die passive Sterbehilfe gesetzlich erlaubt. 2006 verabschiedete der Nationalrat ein Patientenverfügungsgesetz. Beihilfe zum Suizid ist aber wie in Deutschland strafbar.

Schweiz

In der Schweiz ist die "Tötung auf Verlangen" ebenfalls verboten. Die Gesetze erlauben es aber, unheilbar Kranken Gift anzubieten, das diese dann selbst einnehmen. Die Schweizer Organisationen Exit und Dignitas bieten Sterbenskranken an, ihnen auf Wunsch beim Suizid zu helfen. Passive Sterbehilfe ist nicht ausdrücklich geregelt, gilt aber als erlaubt.

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Nach langem Rechtsstreit gab schließlich der Staatsrat, Frankreichs oberstes Verwaltungsgericht, den Ärzten Recht. Im Juni 2014 entschied er, dass eine künstliche Lebensverlängerung des Komapatienten unzumutbar sei. Das Gericht stützte sein Urteil auf mehrere ärztliche Gutachten, die Lambert sowohl irreparable Gehirnschäden attestiert als auch seinen Zustand wegen einer weitgehenden Bewusstlosigkeit als „vegetativ“ eingestuft hatten.

Vincent Lambert hatte keine Patientenverfügung

Lamberts Eltern bezeichneten den Spruch als einen Bruch der Europäischen Menschenrechtskonvention und strengten umgehend eine Klage wegen des Verstoßes „gegen das Recht auf Leben und das Verbot von Folter und unmenschlicher Behandlung“ vor dem EGMR an. Eine Klage, die dessen Richter am Donnerstag mit zwölf zu fünf Stimmen zurückgewiesen haben. Zwar kündigte der Anwalt von Lamberts Eltern weitere rechtliche Schritte an, „um das Leben von Vincent doch noch zu retten“, doch ein Einspruch gegen ein EGMR-Urteil ist nicht möglich.

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Dass Vincent Lambert keine Patientenverfügung gemacht hatte, gestaltet den Fall besonders problematisch. Nach Angaben seiner Frau soll der frühere Krankenpfleger vor seinem Unfall mehrfach geäußert haben, dass er lebensverlängernde Maßnahmen ablehne. Seine Eltern hingegen haben das stets bestritten.

Wie in Deutschland können Ärzte auch in Frankreich zusammen mit den Angehörigen lebensverlängernde Maßnahmen abbrechen, um unheilbar Kranke sterben zu lassen. Allerdings ist die aktive Sterbehilfe in Frankreich ebenso verboten wie in Deutschland und fast allen anderen europäischen Staaten. Vincents Mutter Viviane rief gestern in Erinnerung, was das bedeutet: „Sie werden meinen Sohn qualvoll verdursten und verhungern lassen. Dass der EGMR so etwas absegnet, ist ein Skandal!“