Ruhrgebiet. Neue Prognose über Zustrom von Flüchtlingen wirft bisherige Pläne über den Haufen. In den Städten wird improvisiert - und Bund und Land sollen zahlen.

Drastisch steigende Flüchtlingszahlen setzen die rot-grüne Landesregierung weiter unter Handlungsdruck. Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) hat NRW-Innenminister Ralf Jäger (SPD) am Donnerstag offiziell darüber unterrichtet, dass sich die Zahl der bundesweiten Asylanträge bis Jahresende auf 400. 000 verdoppeln werde. NRW muss sich auf mehr als 80. 000 neue Flüchtlinge einstellen, gerechnet hatte man mit rund 40. 000. Durch die neue Prognose seien die bisherigen Ausbaupläne für Aufnahmeeinrichtungen des Landes hinfällig geworden, so Jäger: „Ich gehe davon aus, dass die Aufnahmekapazitäten deutlich nach oben korrigiert werden müssen.“

Noch ist unklar, wo die Neuen unterkommen sollen

Grünen-Flüchtlingsexpertin Monika Düker rechnete vor, dass der für 2015 beabsichtigte Ausbau der Erstaufnahmeplätze in NRW von etwa 7.000 auf 10. 000 der Realität nicht mehr standhalte. „Wir brauchen mindestens 5.000 Plätze zusätzlich“, so Düker. Der Städte- und Gemeindebund forderte die Aufstockung auf 20. 000 Aufnahmeplätze des Landes.

Wo die zusätzlichen Flüchtlinge nach ihrer Ankunft in NRW untergebracht werden sollen, ist unklar. Zurzeit arbeitet das Land an weiteren Unterbringungsmöglichkeiten. Im Dezember soll in Essen eines der größten Asylheime mit mehr als 800 Plätzen in Betrieb genommen werden. Immer öfter dürfte das Land aber Flüchtlinge in kommunale Einrichtungen schicken, deren Asylverfahren noch nicht einmal eröffnet worden sind. Normalerweise soll zunächst der Aufenthaltsstatus binnen drei Monaten geklärt sein, bevor die Kommunen übernehmen.

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Jäger forderte vom Bund eine deutlich schnellere Bearbeitung der Asylanträge, um Druck von Land und Kommunen zu nehmen: „Es ist ein unhaltbarer Zustand, dass Flüchtlinge sechseinhalb Monate über ihre Zukunft im Ungewissen gelassen werden und 200.000 Asylanträge noch unbearbeitet sind, weil das zuständige Bundesamt nicht genügend Personal einstellt“, sagte er.

Vor einem für Freitag im Kanzleramt angesetzten Spitzentreffen zur Flüchtlingspolitik forderte Ministerpräsidentin Hannelore Kraft (SPD) zusätzliche Finanzhilfen aus Berlin. Der Städte- und Gemeindebund sieht auch das Land stärker in der Pflicht: Trotz der Aufstockung der Kostenpauschalen für jeden Flüchtlingsplatz erstatte NRW den Kommunen nur 64 Prozent ihrer Aufwendungen, andere Bundesländer 100 Prozent.

Steigende Flüchtlingszahlen - so reagieren die Städte 

Vor dem Flüchtlingsgipfel im Kanzleramt ruft der Präsident des Städte- und Gemeindebundes NRW, Eckhard Ruthemeyer, nach mehr Hilfe für die Kommunen: mehr Geld (am besten je 500 Millionen Euro für 2015 und 2016), mehr Lehrer für Flüchtlingskinder, Öffnung von Immobilien des Bundes und des Landes.

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Es gibt sie natürlich, jene Bürger, die angesichts des Zustroms von Flüchtlingen sagen: Jetzt reicht’s. Sollen sie doch woanders unterkommen oder am besten gar nicht erst um Asyl bitten. Es gibt aber auch jene, die die Not der Menschen erkennen und helfen wollen, wo sie können. Mit Spenden, Kleidung, Wohnraum, Hausrat, Spielzeug oder einfach nur – Zeit.

„Mitspieler für Flüchtlingskinder an der Gabelstraße gesucht“, heißt es etwa auf der Internetseite www.fluechtlingshilfe-oberhausen.de, die die Stadt kürzlich eingerichtet hat – in acht Sprachen. Zwar hatten nette Menschen jede Menge Brettspiele gespendet, nur die Spielanleitungen können die Kinder ja nicht verstehen. Mittwochs kommen bereits zwei Damen von „Terres des Hommes“ zum Spielen, da bleiben noch viele Tage in der Woche übrig. „Wer Zeit und Lust hat, den Kindern die Eingewöhnung etwas zu erleichtern, kann sich melden“, heißt es da.

Doppelt so viele Asylbewerber

Und solches Bürger-Engagement wird angesichts der wachsenden Flüchtlingszahlen wichtiger. Neuen Prognosen zufolge dürften in diesem Jahr mit 80.000 etwa doppelt so viele Asylbewerber nach NRW kommen als bisher angenommen. Die Entwicklung ist dynamisch. Die Behörden an Rhein und Ruhr zählten im Jahr 2012 noch 15.000 Asylbewerber. Im Jahr darauf waren es 24.000, im laufenden Jahr wurde bis zur aktuellen Prognose mit 40 000 kalkuliert.

Das Land, die für die Flüchtlinge zuständige Bezirksregierung Arnsberg und die Städte schaffen seit Monaten immer neue Unterbringungsmöglichkeiten. „Ein Kraftakt“, sagt Christian Chmel-Menges, Sprecher der Bezirksregierung. Bis 2012 kam NRW mit zwei so genannten Zentralen Unterbringungseinrichtungen (ZUE) zurecht: in Hemer und in Schöppingen. Heute gibt es 21 ZUE – unter anderem in Bochum, Essen, Duisburg und Unna – sowie neun Notunterkünfte, zum Beispiel in Hagen, Bochum und Köln.

Kapazitäten werden erweitert

In diesen Landes-Aufnahmeeinrichtungen ist Platz für 10.000 Flüchtlinge, rund 7.300 sind gerade belegt. Aber der Präsident des Städte- und Gemeindebundes NRW, Eckhard Ruthemeyer, forderte gestern die Verdoppelung auf 20.000 Plätze. „Nur so ist gewährleistet, dass Flüchtlinge nicht einfach zu den Kommunen durchgereicht, sondern vorher registriert und medizinisch wie psychologisch betreut werden.“ Denn aus den ZUE werden die Flüchtlinge nach wenigen Wochen auf alle 396 Städte und Gemeinden im Land verteilt.

Auf sämtlichen Ebenen werden gerade die Kapazitäten erweitert. Die erste Station für die Flüchtlinge ist eine Erstaufnahmeeinrichtung (EAE). Bisher gab es zwei im Land: eine in Dortmund (350 Plätze), eine in Bielefeld (250 Plätze). „In den nächsten Monaten sollen 1000 weitere EAE-Plätze dazu kommen“, berichtet Chmel-Menges, und zwar in Unna, Bad Berleburg und Burbach. Wohl gemerkt: Auf Grundlage der alten, offenbar zu niedrig angesetzten Prognose.

Angespannte Stimmung

Bisher gelingt es zum Beispiel Dortmund, etwa 1.800 der aktuell rund 2.900 Flüchtlinge in normalen Wohnungen unterzubringen. Die dortige Erstaufnahme war gestern nur zu zwei Drittel belegt. Aber eine Verdoppelung der Flüchtlingszahlen würde die Situation wohl dramatisch verändern. Auch andere Städte sie sind am Rande ihrer Möglichkeiten. „Wir kommen mit der Einrichtung weiterer Unterkünfte kaum nach“, heißt es aus Duisburg, das derzeit knapp 2.500 Flüchtlinge beherbergt. „Es gibt immer wieder Tage, an denen wir nicht einen einzigen freien Platz haben.“ Zugleich hätten sich die Kosten seit 2013 verdoppelt.

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„Berlin muss sein finanzielles Engagement für die Flüchtlingsunterbringung mindestens verdoppeln“, fordert stellvertretend für seine Kollegen der Oberhausener Kämmerer Apostolos Tslastras. Bisher sind es vor allem die Städte, die die Folgen von Kriegen und Krisen in aller Welt schultern müssen. So gab die hochverschuldete Stadt Oberhausen in diesem Jahr schon 1,8 Millionen Euro mehr aus als geplant. Die Zahl der Flüchtlinge hat sich von 539 im Jahr 2014 auf 1.165 mehr als verdoppelt. Fünf neue Sammelunterkünfte für 450 Menschen sind in Planung. Doch weiß die Stadt bereits heute, dass es bis Jahresende weit über 700 werden könnten.