Rom. . Bei einem Schiffsunglück vor der italienischen Insel Lampedusa sind womöglich 700 Menschen ertrunken. Europa fordert „entschiedenes Handeln“.
Bei der wohl schwersten Flüchtlingstragödie im Mittelmeer sind in der Nacht zum Sonntag womöglich 700 Menschen ertrunken – genau in dem Moment, als ein Handelsschiff zu ihrer Rettung auf sie zufuhr.
Das überfüllte Fischerboot befand sich auf der Fahrt von Libyen nach Italien, als ein Eritreer gegen Mitternacht von Bord aus einen Hilferuf an die Leitstelle der italienischen Küstenwache absetzte. Angesichts der Position des Kutters – 60 Meilen nördlich der nordafrikanischen Küste und noch in libyschen Gewässern – baten die Italiener einen portugiesischen Frachter, der sich in der Nähe befand, sich von der Lage ein Bild zu machen. Als sich die „King Jacob” dem Fischkutter näherte – so erklärten es die Mitglieder der Besatzung später – hätten sich die Afrikaner alle spontan auf eine Seite des 20 Meter langen Bootes begeben; dies sei daraufhin gekentert.
Viele können nicht schwimmen
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Bis zum späten Nachmittag waren etwa 30 Überlebende und mehr als 30 Leichen aus dem Wasser gezogen worden. Wie viele Afrikaner tatsächlich auf dem gekenterten Kutter waren, konnte die italienische Küstenwache noch nicht klären; die Zahl 700 beruhe, so erklärten die Behörden, auf den Angaben jenes Afrikaners, der den Notruf abgesetzt hatte. Dass der Kutter aber überfüllt war, daran hegten die italienischen Einsatzkräfte aber keine Zweifel.
Dass ausgerechnet der Moment ihrer Rettung der gefährlichste sein kann für Bootsflüchtlinge, das zeigt sich fast jede Woche: Schiffe der italienischen Küstenwache oder zufällig vorbeikommende Frachter gehen längsseits zu den überfüllten Schlauch- oder Fischerbooten; voller Aufregung stürzen die Flüchtlinge alle auf die eine Seite ihres Gefährts – und kentern mit ihm. Die meisten Flüchtlinge kommen aus afrikanischen Binnengegenden, haben das Meer nie gesehen, können nicht schwimmen. Insgesamt sollen in diesem Jahr schon mehr als 1000 Flüchtlinge im Mittelmeer ertrunken sein.
Italien half auf eigene Faust
Laut Innenministerium in Rom sind 2015 bereits 23 .500 „boat people“ nach Italien gelangt, ein Drittel mehr als im Vergleichszeitraum 2014. Die Aufnahmelager sind überfüllt, die Nerven liegen blank. Die rechten Parteien sehen in den Flüchtlingstragödien „eine Tragödie der Regierung Renzi, an deren Händen Blut klebt“. Eine Lösung gebe es nur mit Aufnahmelagern in Nordafrika und einer Seeblockade gegenüber Libyen. Die Berlusconi-Vertraute Daniela Santanché sagte: „Die einzige Lösung besteht darin, dass Luftwaffe und Marine sofort ausrücken und alle Boote versenken, die an der libyschen Küste zum Auslaufen bereitstehen.“ Der Führer der rechtsextremen Lega Nord, Matteo Salvini sagt: „Wer nicht in See sticht, geht auch nicht unter. Es sind rassistische Schakale, die zulassen, dass die Afrikaner aufbrechen.“
Das Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen und katholische Kreise forderten gestern erneut eine „europäische Operation Mare Nostrum“. Das wäre eine gemeinsam verantwortete Fortsetzung der gleichnamigen Such- und Rettungskampagne, wie sie Italien nach der Tragödie von Lampedusa auf eigene Faust organisiert hatte. Mit Kosten von neun Millionen Euro pro Monat war sie dem Land aber nach einem Jahr zu teuer geworden; die Aufgaben gingen an die europäische Grenzschutzagentur „Frontex“ über, die aber nur ein Drittel der ursprünglichen Mittel zur Verfügung stellt und den Akzent auf das Abschirmen der europäischen Seegrenze setzt, weniger auf das Aufspüren und Retten von gefährdeten Flüchtlingsbooten.
In Brüssel teilte die EU-Kommission mit, sie sei „zutiefst frustriert von den jüngsten Entwicklungen im Mittelmeer“. Diese erforderten „entschiedenes Handeln“ und eine „Lösung des Problems an der Wurzel, also in den Ursprungs- und Transitländern“ der Flüchtlinge.