Berlin. Der Antisemitismus in Europa nimmt zu. Dennoch lehnt Josef Schuster es ab, Juden zum Auswandern nach Israel aufzurufen: “Es gibt keinen 100-prozentigen Schutz“.
Erst Paris, nun Kopenhagen. Und die Terrorwelle geht weiter, sagt Israels Premier Benjamin Netanjahu. Er legt den Juden nahe, nach Israel auszuwandern. Für den Präsidenten des Zentralrats der Juden in Deutschland, Josef Schuster, ist das „nicht nachvollziehbar“, wie er im Gespräch mit Miguel Sanches sagte.
Sie haben erklärt, die Angst vor dem Terror sei kein Grund, Deutschland zu verlassen. Entspricht das der Seelenlage der Juden?
Josef Schuster: Davon bin ich überzeugt. Bei aller Tragik muss man sich vor Augen führen, dass islamistischer Terror ein weltumspannendes Phänomen ist. Es gibt davor keinen 100-prozentigen Schutz, auch nicht in Israel.
War Netanjahus Angebot übereilt?
Josef Schuster: Dass Israel Juden zur Einwanderung aufruft, gehört zur Staatsräson Israels und ist nicht neu. Aber Netanjahus Aufruf, wegen Terrorgefahr nach Israel zu ziehen, ist für mich nicht nachvollziehbar.
Schauen wir nach Europa. Hängt ein Fragezeichen über der Zukunft des Judentums, in Ungarn, in Frankreich?
Josef Schuster: Fakt ist, dass in vielen Ländern antisemitische Ausschreitungen zugenommen haben. Dennoch liegt selbst in Frankreich die Quote der Juden, die auswandern, nur bei 1,4 Prozent. Auch Deutschland ist nicht die Insel der Glückseligen. Ich erinnere an den Angriff auf Rabbiner Daniel Alter 2012 in Berlin – nur weil er eine Kippa trug.
"Wir hatten gedacht, solche Parolen in Deutschland nie mehr zu hören"
Und dann die Hetzparolen bei den Protesten im letzten Sommer. Wie war das?
Josef Schuster: Der letzte Sommer hat viele Juden erschreckt, auch mich. Es waren Parolen, von denen wir gedacht haben, wir würden sie nie mehr in Deutschland hören. Sie sind allerdings nicht von der Mehrheit gekommen.
Haben Sie eine Erklärung dafür, dass der Antisemitismus an Intensität zugenommen hat?
Josef Schuster: In Frankreich könnte die soziale Lage eine Rolle spielen. Es gibt auch eine hohe Einwanderung aus den nordafrikanischen Staaten. Bei den jungen Muslimen sind antisemitische Haltungen viel stärker ausgeprägt als in der übrigen Bevölkerung.
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Wird man als Jude für Israels Nahost-Politik verantwortlich gemacht?
Josef Schuster: Ich werde nicht müde, darauf hinzuweisen, dass jüdische Gemeinden keine konsularischen Einrichtungen Israels sind. Aber in der Tat müssen Juden häufig vor „Otto Normalverbraucher“ stellvertretend für die Probleme der israelischen Politik herhalten.
Die Politik tut viel, um die jüdische Gemeinschaft zu schützen. Außer Frage steht auch das Existenzrecht Israels. Gibt es einen Gegensatz zwischen Staatsräson und gesellschaftlicher Stimmung?
Josef Schuster: Nach einer Umfrage der Bertelsmann-Stiftung sieht es leider danach aus. Allerdings müsste die Fragestellung auch einmal kritisch überprüft werden. Ich habe schon das Gefühl, dass sich das Verhältnis der Mehrheit der Gesellschaft zu Israel verändert hat. Vor einigen Jahren hat man mit Begeisterung auf Israel geschaut, während von dort kritische Fragen kamen. Heute ist es umgekehrt.