Essen. . Überbehütung ist keine Erziehung, sagt der Experte vom Progressiven Elternverband. Die Landeselternschaft Grundschulen wünscht sich keinen erhobenen Zeigefinger, sondern ein Schulklima des Vertrauens..

Eltern, deren wild geparkte „Mama-Taxis“ morgens dem Schulbus die Anfahrt versperren, Mütter, die noch Drittklässlern den Tornister packen und ihn in die Schule tragen, Väter, die ihr Kind aus Furcht vor Kidnappern nicht allein zur Schule gehen lassen: Nur ein Sechstel aller Eltern seien überfürsorglich, meint der Bildungsautor Josef Kraus. Doch auch aus Sicht der Schulen wächst ihre Zahl offenbar.

Ein Grund dafür könnte sein, dass Eltern – oft mit nur einem Kind – heute „wie in einem ­Vakuum leben“, vermutet Dieter Heinrich vom Progressiven Elternverband (PEV) in Gelsenkirchen. Der unterstützt seit 1973 ­Familien in Erziehungsfragen.

Zahl­lose Ratgeber voller Warnungen und guter Tipps, um aus Kindern erfolgreiche Menschen zu machen, seien kein Ersatz für einen lebendigen Alltag mit Höhen und Tiefen. Überbehütung sei ja gerade keine Erziehung: „Kinder, die keine Grenzen erleben, keine sozialen Regeln einhalten müssen, werden als Erwachsene nicht plötzlich ihr Leben meistern“, sagt Heinrich.

Kinder auch mal allein zum Spielen schicken

„Kinder brauchen Frei­räume, damit sie auch mal Fehler machen können. Und dabei zu lernen, wie man mit Scheitern oder schwierigen Situationen umgeht“, sagt Heinrich. Sein Tipp an verunsicherte Eltern: „Viel unternehmen, gemeinsam mit anderen Familien, und dabei die Kinder auch mal ganz alleine ins Gelände losschicken – das macht alle Beteiligten gelassener.“ Dabei, ist seine Erfahrung, erleben Eltern erstmals miteinander: Erziehung funktioniert doch. Und wirkt nach.

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Birgit Völxen, Geschäftsführerin der Landeselternschaft Grundschulen NW in Bochum, findet es falsch, verunsicherten Eltern nur Vorwürfe zu machen. „Kümmern sie sich nicht um die Bildung der Kinder, ist das falsch; kümmern sie sich zu sehr, ist das genauso falsch – also ganz gleich, was sie tun: Sie haben den Schwarzen Peter.“ Keine Rolle, die beruhigt und sicherer macht.

Wachsender Leistungsdruck in den Schulen

Die Mutter zweier erwachsener Kinder plädiert für eine differen­zierte Sicht der Dinge. „Seit der Jahrtausendwende erleben wir in den Schulen eine Leistungsstudie nach der anderen. Eltern erleben, dass die Schulen den Druck erhöhen, dass Medien und Unternehmen permanente Spitzenleistungen einfordern.

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Viele Eltern treibe deshalb die Sorge: „Ohne Einser-Abitur an einem Top-Gym­nasium eröffnen wir unserem Kind keinen guten Weg in ein erfolg­reiches Leben.“ Andere äußere Einflüsse kämen hinzu: „Wenn sich nur zwei, drei Eltern an einer Grundschule so demonstrativ um ihre Kinder kümmern, fühlen sich andere schnell unter Druck gesetzt.“ Und fühlten sich gefordert, gleichfalls zu zeigen: Ich bin keine, die ihr Kind einfach laufen lässt, also vernachlässigt.

Immer mal wieder an die eigene Kindheit denken

Die Balance zwischen beiden Extremen zu finden, falle niemandem leicht, weiß Birgit Völxen aus eigener Erfahrung. Ängstlichen Eltern rät sie deshalb, sich einfach mal wieder an die eigene Kindheit zu erinnern: An Stunden oder ganze Abende allein zuhause. Oder auf dem Spielplatz. Oder am Bach. „Was haben sie damals gemacht? Was gedacht? Wie haben sie sich dabei gefühlt? Haben sie es vielleicht genossen, die ganze Wohnung mal ganz für sich zu haben?“ Wer an frühe Erlebnisse der Eigenständigkeit gute Erinnerungen hat, könne solche Erfahrungen auch beruhigt den eigenen Kindern zubilligen.

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Die Schulen dürften besorgten Eltern nicht nur mit Abwehr und Abwertung begegnen. Wichtiger als ein erhobener Zeigefinger ist aus ihrer Sicht „ein Schulklima, das allen Eltern vermittelt: Hier ist mein Kind gut aufgehoben, hier wird es respektiert, nicht drangsaliert, nicht diffamiert, hier werden Probleme ­gemeinsam gelöst – am besten gemeinsam mit dem Kind. Das schafft Vertrauen und nimmt die Sorge.“

„Eltern müssen auch loslassen können“

Schulministerin Sylvia Löhrmann (Grüne) sieht das genauso: „Eltern haben ein berechtigtes Interesse daran, dass ihre Kinder die beste Bildung erhalten. Eltern müssen aber auch loslassen können, damit ihrer Kinder Schritt für Schritt selbstständiger werden.“ Dazu gehöre auch das Vertrauen der Eltern in die pädagogische Arbeit der Schulen. Und in die Kompetenz derer, die den kleinen Menschen viele neue Welten eröffnen können.