Berlin. . Der erste Regierungschef der Linken vermeidet das Wort vom historischen Tag. Doch für viele ist seine Wahl 25 Jahre nach dem Mauerfall genau das.
Es ist eine Zäsur in der bundesdeutschen Politik, Bodo Ramelows Parteifreunde sind völlig aus dem Häuschen. Gregor Gysi ist eigens von Berlin in den Thüringer Landtag nach Erfurt gekommen, nun jubelt er: „Ein großer Tag, wir können stolz sein. Dass ich das noch erleben darf.“ Nur der frisch gewählte Linken-Ministerpräsident Ramelow stapelt lieber tief. Ein historischer Tag? Nein, sagt der 58-Jährige in seiner ersten Rede als Regierungschef, der historische Moment sei am Vortag vor 25 Jahren die Erstürmung der Stasi-Zentrale in Erfurt gewesen.
Es ist eine Geste an die vielen Kritiker der neuen Regierung unter Führung der SED-Nachfolgepartei, Ramelow geht noch weiter: Er bittet alle Opfer des SED-Regimes um Entschuldigung, spricht dazu persönlich einen Freund auf der Zuhörer-Tribüne an, der einst im Stasi-Gefängnis saß. Seine Landesregierung werde sich nicht nur um die Aufarbeitung des Unrechts bemühen, sie wolle auch „versöhnen statt spalten“: Dieses Motto des früheren NRW-Ministerpräsidenten Johannes Rau (SPD) sei der Anspruch, an dem er sich auch persönlich messen lassen wolle, erklärt Ramelow.
2000 Menschen hatten "Stasi raus" gerufen
Es ist ein ungewöhnlicher Auftritt an einem denkwürdigen Tag: 25 Jahre nach dem Mauerfall wird erstmals ein Linken-Politiker Ministerpräsident, rückt damit weit vor ins Zentrum der Macht vor. Noch am Vorabend hatten rund 2000 Menschen in Erfurt mit „Stasi raus“-Rufen gegen Rot-Rot-Grün demonstriert. Kurz nach Ramelows Wahl erklärt der Ilmenauer SPD-Kreisvorsitzende Stefan Sandmann seinen Austritt aus der Partei: „Die SPD hat heute in Thüringen ihren Untergang besiegelt“, klagt Sandmann.
Das Bündnis spaltet das Land, das macht Ramelow schon jetzt Sorgen. Dabei galt er als Idealbesetzung, um Vorbehalte gegen einen Regierungschef der Linken abzubauen: Ramelow ist in Niedersachsen geboren, in Hessen aufgewachsen, er absolvierte im Westen eine Kaufmannslehre und wurde dann Gewerkschaftssekretär. Erst nach der Wende ging er nach Thüringen, wurde dort Landeschef der Gewerkschaft Handel, Banken, Versicherungen - und machte als „Wessi“ in der Linkspartei Karriere.
"Er ist ja kein typischer Linker"
Zehn Jahre hat Ramelow auf den Einzug in die Staatskanzlei hingearbeitet, in den Koalitionsverhandlungen kam er SPD und Grünen weit entgegen. „Er ist ja gar kein typischer Linker“, meint beruhigend SPD-Landeschef Andreas Bausewein. Und doch erlebt Ramelow im Landtag erst noch einen kleinen „Wahlkrimi“, wie er selbst sagt: Im ersten Wahlgang fehlt ihm eine Stimme, erst im zweiten Durchgang erhält er dann 46 von 90 gültigen Stimmen - genauso viele Abgeordnete hat die Koalition.
Offenbar hat sich in der Opposition ein Abgeordneter enthalten, ein weiterer gibt zweimal einen ungültigen Wahlzettel ab. Ein AfD-Abgeordneter bekennt sich dazu. Die CDU hatte keinen Gegenkandidaten benannt, weil sie fürchtete, sonst eine Debatte um die Zusammenarbeit mit der neuen AfD-Fraktion loszutreten.
Die CDU sagt eine kurze Haltbarkeit voraus
Die Stimmung bleibt angespannt, auch wenn Ramelow zu Fairness und Respekt aufruft. CDU-Fraktionschef Mike Mohring sagt voraus, die Koalition werde nicht die gesamte Wahlperiode halten, bislang seien alle Dreier-Bündnisse in Landtagen rasch wieder geplatzt.
Doch Ramelow und seine Koalitionspartner stürzen sich gleich in die Arbeit. Kaum sind die Ernennungsurkunden für die Minister überreicht - vier stellen die Linken, drei die SPD, zwei die Grünen - beginnt schon die erste Kabinettssitzung. Die Zeit drängt, der Landeshaushalt für 2015 steht noch aus.
Geht es auch um die Bundesebene?
Die Regierung weiß, wie streng das Thüringer Experiment bundesweit beobachtet wird. Führende Unions-Politiker sind misstrauisch, ob SPD, Linke und Grüne nicht doch heimlich an einer solchen Koalition auch auf Bundesebene arbeiten - die Hürden, die die SPD jetzt benennt, sind keineswegs unverrückbar.
Doch wegen der derzeitigen außenpolitischen Differenzen hofft die SPD-Spitze alle Spekulationen um ein solches Bündnis auf Bundesebene zerstreuen zu können. Das aber will die Union der SPD nicht durchgehen lassen, offen stellt sie jetzt die Glaubwürdigkeit von Vizekanzler Gabriel in Frage. Auch die Linke spielt nicht mit, sie drängt die SPD zur Zusammenarbeit im Bund: „Es müssen Gespräche beginnen“, meinte Gysi. Für die Linke scheint plötzliches vieles möglich: Wer hätte sich 1990 vorstellen können, überlegt der Linken-Fraktionschef, dass jetzt ein Linker ein Bundesland regiert?