Essen. Tumulte vor Gericht, mangelnder Respekt vor dem Recht. Benutzen Familienclans wirklich die Strafprozesse als Showbühne für Machtdemonstrationen?

Es gibt Begriffe, die benötigen keine Erklärung. „Libanesen-Prozess“ ist so ein Wort, das sich im Kopf des Bürgers unmittelbar mit „Tumult“ vor Gericht und „Respektlosigkeit“ gegenüber dem deutschen Rechtsstaat verbindet. Es sind die Bilder von bewaffneten Polizisten, die ein Strafverfahren mit libanesischer Beteiligung sichern. Und Berichte über Verhandlungen, bei denen die Libanesen ausrasten, Justizpersonal beschimpfen. Manch einer meint, dass die Libanesen einen Strafprozess nur als Showbühne betrachten, um eigene Größe zu demonstrieren.

Dabei stimmt schon der Begriff Libanese nicht. Mittlerweile ist ja bekannt, dass es sich um die Großfamilien der ursprünglich aus der Türkei stammenden Mhallami-Kurden handelt, die um 1976 über Ost-Berlin illegal in die Bundesrepublik einreisten.

Früher beauftragten die Libanesen Krawallanwälte

Auch die Tumultbereitschaft trifft nicht auf alle zu. „Da hat ein Wertewandel stattgefunden“, sagt der Essener Rechtsanwalt Volker Schröder. Er verteidigt häufig Libanesen vor den Strafgerichten. „Früher haben Mitglieder dieser Gruppe gerne Krawallanwälte beauftragt“, sagt der Jurist. Mittlerweile hätten sie bemerkt, dass das im Ergebnis für sie eher schlecht ausgeht. „Heute nehmen sie eher Anwälte, die realistisch an den Fall heran gehen. Da gibt es bei entsprechender Beweislage auch mal Geständnisse und ein angemessenes Urteil.“

Es gibt andere Fälle, die im Gedächtnis der Öffentlichkeit hängen bleiben. Etwa 2015 das Strafverfahren gegen einen 26 Jahre alten Libanesen vor dem Amtsgericht Hameln. Auf Raub lautete die Anklage. Während der Verhandlung sprang er aus dem siebten Stock, stürzte in den Tod. Völlig irrational: Mitglieder seines Clans griffen unten im Hof die Rettungskräfte und Polizisten an, verletzten sie.

Theatralisch im Gericht auf den Boden geworfen

Oder der Tobsuchtsanfall des mutmaßlichen Berliner Clan-Chefs Issa Remmo im Juli 2019 nach dem Freispruch für seinen 21-jährigen Sohn Ismail vom Vorwurf des Mordes an einem Mann aus einem anderen Clan. Issa Remmo hatte sich danach im Zuhörerbereich des Berliner Landgerichtes auf den Boden geworfen und gerufen: „Ich küsse die Erde von Deutschland.“

Das mag noch positiv klingen und den Rechtsstaat bejahen. Aber seine weiteren Äußerungen bedienten wieder das Klischee des Libanesen, der gar keinen Respekt vor dem deutschen Rechtsstaat hat: „Herr Staatsanwalt, ich kenne Sie. Ich habe Respekt für Gericht, für Polizei. Ich habe Respekt für dieses Land, aber für dich absolut gar nicht, Herr Staatsanwalt!“

50 Polizisten sichern Prozess um Bottroper Libanesen-Hochzeit

Und wer im Internet mit den Suchbegriffen „Libanesen Prozess Tumult“ forscht, der stößt schnell auf die Bottroper Libanesen-Hochzeit von 2011. Ein heimtückischer Mord auf einer Feier mit 700 Gästen, bei der ein junger Mann aus einem Motiv der „Ehre“ heraus hinterrücks erstochen wurde. 50 Polizeibeamte sicherten am Essener Landgericht das Mordverfahren zum Auftakt im Dezember 2011. Im Zuhörerraum mussten die verfeindeten Clans streng getrennt voneinander Platz nehmen. Es blieb ruhig am ersten Prozesstag.

Am zweiten Tag war es mit der Ruhe schon wieder vorbei. In einer Pause gerieten die Clans im Foyer aneinander, ein Mann schlug einer Frau ins Gesicht. Polizisten und Justizwachtmeister gingen dazwischen. Der Rest des Verfahrens verlief relativ ruhig. Immer wieder gab es allerdings Ordnungsgelder von 150 Euro, weil im Zuhörerraum Handys klingelten.

"Libanesen akzeptieren nur Aldi und Lidl"

Der Marler Rechtsanwalt Siegmund Benecken, der als Strafverteidiger oft um Verständnis für angeklagte Libanesen warb, vertrat damals ein Mitglied der Opferfamilie. In seinem Plädoyer verallgemeinerte er plastisch und drastisch: „Die Libanesen akzeptieren hier nur Aldi und Lidl. Ansonsten leben sie in ihrer eigenen Welt.“ Vorausgegangen war allerdings ein Mordanschlag, der in Bielefeld auf den Vater der Essener Angeklagten verübt wurde. Mutmaßlicher Auftraggeber: ein Nebenkläger, der Vater des Opfers im Essener Prozess.

Starke Polizeikräfte sichern das Essener Landgericht, wenn bei einem Libanesenprozess Gefahr droht. Die Aufnahme entstand bei einem Mordverfahren im Jahre 2016.
Starke Polizeikräfte sichern das Essener Landgericht, wenn bei einem Libanesenprozess Gefahr droht. Die Aufnahme entstand bei einem Mordverfahren im Jahre 2016. © Essen | Kerstin Kokoska

Sachlich kommentiert die Essener Staatsanwaltschaft die Clan-Aktivitäten, bei denen sie verschiedene Nationalitäten, nicht nur Libanesen, im Blick hat. NRW-Justizminister Peter Biesenbach hatte im Januar der Behörde zwei neue Planstellen bewilligt, die sich ausschließlich um die Clan-Kriminalität kümmern sollen.

Essen ist eine der sichersten Großstädte Deutschlands

Markig betonte der Minister, dass die Bürger in Essen künftig wieder ohne Angst über die Straße gehen könnten. Sofort reagierten Walter Müggenburg, Leiter der Essener Staatsanwaltschaft, und Polizeipräsident Frank Richter mit der statistisch gesicherten Erkenntnis, dass die Ruhrmetropole eine der sichersten Großstädte Deutschlands sei.

Staatsanwalt Peter Gehring, der die Abteilung für Organisierte Kriminalität der Essener Behörde leitet, freut sich zwar über die in seinem Bereich angesiedelten neuen Stellen. Dramatisieren will er das Phänomen aber nicht. Das Problem der Libanesen sei, dass sie sich lautstark und mit PS-starken Autos offen auf der Straße produzierten und deshalb den Unmut der Bevölkerung erregten. „Die Italiener sind da schlauer, die bleiben unauffällig“, sagt er. „Wer weiß denn, was herauskommt, wenn wir verstärkt in Rüttenscheid ermitteln?“, spricht er die italienische Gastro-Szene in dem Essener Ausgehviertel an. Unwillkürlich denkt man an die sechs Mafia-Morde vor dem Duisburger Ristorante „Da Bruno“ 2007.

Zeugen vor Clan-Bedrohung besser schützen

In Strafverfahren sieht Gehring die Libanesen nicht als Hauptproblem. Allerdings müssten die Zeugen, die gegen Clan-Mitglieder aussagen, besser geschützt werden. Denn die Familienmitglieder des Angeklagten „sitzen hinten drin und gucken böse“. Auch auf dem Flur müssten die Zeugen, die ein Mitglied des Clans belasten, sich durch die feindlich wirkende Menge hindurch kämpfen. Gehring: „Da müssen wir uns etwas einfallen lassen.“

Paralleljustiz, Falschaussagen vor Gericht: All das sind Begriffe, die Praktiker nicht nur auf Libanesen anwenden. „Nirgendwo wird so viel gelogen wie vor Gericht“, ist ein uralter Spruch.

Amtsgericht soll Angst vor einem Libanesen-Prozess haben

Und dass, wie im „Focus“ erst kürzlich behauptet, das Essener Amtsgericht aus Angst keinen Prozess gegen einen Libanesen geführt habe und er deshalb seiner Strafe entgangen sei, hat viele Strafrechtler verärgert. „Das beleidigt mich als Juristen“, sagt Verteidiger Volker Schröder.

Denn tatsächlich war der Mann mit einem ohne Verhandlung ausgesprochenen Strafbefehl „bestraft“ worden. Wenn er Einspruch eingelegt hätte, wäre es trotzdem zu einem Strafprozess gegen einen Libanesen gekommen. Wie so oft an einem deutschen Gericht. Auch in Essen.

>>>>>Info

Der Rechtswissenschaftler Mathias Rohe von der Universität Erlangen-Nürnberg gilt als Fachmann für Paralleljustiz. Er bestätigt eine Zunahme der Problematik „in unterschiedlichen Milieus“. Damit meint der 59-Jährige „Reichsbürger, Hooligans, Rockerbanden, Clans“.

Respektlosigkeit vor den Gerichten zeigen auch linke Gruppen. Etwa die jungen Menschen, die 2012 am Essener Amtsgericht damals verbotene T-Shirts der DDR-Organisation FDJ trugen. Sie folgten dem Verweis des Richters nicht und mussten von Justizwachtmeistern aus dem Saal getragen werden.