Essen. In vielen Regionen Deutschlands wird zu viel operiert – das ist das Ergebnis der Bertelsmann-Studie, die am Freitag vorgestellt wurde. Patientenschützer kennen das Problem schon länger – sie raten den Betroffenen, unbedingt eine Zweitmeinung einzuholen. Eine Operation ist in zwei von drei Fällen nicht mehr nötig, so das Zweitmeinungszentrum in Dortmund.

Helga R. (71) kommt nicht mehr richtig hoch. Das Aufstehen aus dem Sessel fällt ihr schwer. Wenn sie dann läuft, geht es. Aber der Arzt sagt, sie brauche dringend eine neue Hüfte. Helga R. hat Angst vor Komplikationen. Bei ihrer Nachbarin hat sich die Wunde infiziert. Sie liegt schon seit Wochen im Krankenhaus.

Auch interessant

Christoph Kranich erzählt Geschichten wie diese. Er ist Patientenschützer bei der Verbraucherberatung in Hamburg und ganz fest der Überzeugung, dass in Deutschland viel zu viel operiert wird. Auch eine Bertelsmann-Studie zur Gesundheitsversorgung in Deutschland, die Freitag veröffentlicht wurde, bestätigte zu viele Operationen in manchen Regionen.

„Wer ein Skalpell hat, will es auch benutzten, schließlich bringen Operationen bares Geld für die Kliniken“, sagt Kranich. Der Patient durchschaue das nicht. Er denkt: Was der Arzt anordnet, muss doch richtig sein. Falsch gedacht, meint der Verbraucherschützer.

„Natürlich gibt es eine Reihe Ärzte, die ganz anders arbeiten und die nicht gleich die Dollarzeichen im Auge haben. Aber die zu finden, ist natürlich nicht so einfach“, sagt Kranich. Er rät auf jeden Fall: „Wenn man zu einem Orthopäden geht, der operiert, sollte man noch einen anderen Orthopäden aufsuchen, der nicht operiert.“

Operation in über 80 Prozent der Fälle überflüssig

Tatsächlich ist eine Operation in über 80 Prozent der Fälle überflüssig – wie das Beispiel der Techniker Krankenkasse zeigt: Sie schickt ihre Patienten, die vor einer Bandscheiben-Operation stehen, sehr gerne zur Zweitmeinung in eines der etwa 100 deutschen interdisziplinären Rückenzentren. Da arbeiten eben nicht nur Chirurgen, sondern Internisten, Neurologen, Physiotherapeutin Hand in Hand. In 84 Prozent der Fälle werde danach nicht mehr operiert.

Auch interessant

Auch am Zweitmeinungszentrum am Klinikum Dortmund haben die Fachleute diese Erfahrung gemacht. Von den Patienten, die sich gemeldet haben, konnten die meisten ihre Überweisung zum Chirurgen wegwerfen. 710 Anfragen gingen von Januar 2013 bis Ende Juli 2014 ein, in rund 85 Prozent der Fälle waren sie an Orthopäden und Wirbelsäulen-Chirurgen gerichtet.

„In zwei von drei Zweitmeinungsfällen konnten wir in der Orthopädie eine konservative Therapieempfehlung geben. Das heißt, bei diesen Patienten war keine Operation nötig“, sagt Prof. Bernd-Dietrich Katthagen, Direktor der Klinik für Orthopädie im Klinikum Dortmund.

Es war die Hüfte, nicht das Knie

Eine Patientin litt unter starken Oberschenkel- und Kniebeschwerden und sollte eine Knieprothese bekommen. Bei der Untersuchung zeigte sich dann allerdings, dass die Hüfte und nicht das Knie das Problem war. „Das Knie war nahezu unauffällig, wie wir anhand von Röntgenbildern und Untersuchungen feststellen könnten“, sagt Prof. Katthagen. Eine Knieprothese hätte also definitiv keine Linderung gebracht.

Christoph Kranich von der Verbraucherzentrale hat auch manche Erfahrung auf Lager – aber mit Testpatienten: „Wir hatten einmal eine bildschöne junge Frau zu zehn Schönheits-Chirurgen geschickt. Nur einer hat nachgefragt, ob das denn wirklich nötig sei. Die anderen hätten die 5000 bis 6000 Euro für die Brustvergrößerung ohne Probleme mitgenommen.“

Hintergrund zu Operationen in Deutschland 

Mandel-Operationen bei Kindern, Blinddarm- und Prostata-Eingriffe werden in manchen Regionen Deutschlands bis zu achtmal öfter vorgenommen als andernorts, so die Bertelsmann-Studie. Auch beim Einsatz künstlicher Kniegelenke, bei Kaiserschnitten oder Gebärmutterentfernungen unterscheidet sich die OP-Häufigkeit zwischen den Regionen um das Zwei- bis Dreifache.

Studienleiter Jan Böcken weist darauf hin, dass auch andere Wege als die Operation zu einer Heilung führen können. Der Patient sollte immer über alle Möglichkeiten der Therapie aufgeklärt werden.

Operationen bringen den Kliniken Geld. Krankenkassen zahlen für einen Kaiserschnitt etwa 2800 bis 3000 Euro. In der Pfalz liegt der Kaiserschnitt deshalb im Trend, so der Studien-Leiter. „Man kann aber nicht davon ausgehen, dass die Frauen einen Kaiserschnitt wollen. Im Gegenteil. Die Frauen wollen das eher nicht.“

Zweitmeinungszentrum in Dortmund, Beurhausstraße 40, Telefon: 0231 / 953-0.

Zweitmeinung online zum Beispiel „www.medexo.com“.