Den Haag. . Nach dem Unglück in der Ukraine sind erst 227 Särge in die Niederlande gebracht worden. Noch sind nur wenige Opfer identifiziert. Aber das Land kennt inzwischen jede einzelne Geschichte der 195 Menschen aus der Nähe: warum sie flogen, mit wem, wer um sie trauert.

Tagelang stand Silene Fredriksz auf dem Flughafen von Eindhoven. Tagelang starrte sie auf die Särge, die aus Flugzeugen in Leichenwagen geladen wurden. Und bei jedem dachte sie: „Darin könnte mein Sohn liegen.“ Aber sie wusste es nicht. Sie weiß bis heute nicht, ob Bryce (23) heimgekehrt ist aus der Ukraine. Und seit dem Wochenende kommen keine Flieger mehr und keine Särge. Die Straßenwacht sammelt die Stofftiere ein, die die Trauerzüge säumten.

Sie bringen sie nach Hilversum, wo die sterblichen Überreste der Opfer von MH 17 in einer Kaserne untersucht werden. „Schrecklich, einfach nur schrecklich“, sagt dort Polizeichef Gerard Bouman, zuständig für die Identifizierung. „Wir wissen bis jetzt nicht genau, wie viele Leichen oder Leichenteile in den Särgen waren.“ 227 hat Silene Fredriksz, die verzweifelte Mutter, gezählt. 298 Menschen aber waren an Bord der Unglücksmaschine, 195 von ihnen Niederländer. Der Gedanke, sagt Silene, dass ihr Sohn Bryce „da noch immer auf einem Acker liegen könnte, ist unerträglich“.

Angehörige hoffen, wenigstens persönliche Gegenstände zu bekommen

Sie weiß, „dass ich ihn nie mehr in die Arme schließen kann“, womit sie vielleicht schon weiter ist als die Eltern von Fatima, die ihre Tochter suchen gingen im umkämpften Gebiet in der Ukraine: „Wir müssen dahin, wir werden sie finden.“ Aber Frau Fredriksz bekommt gar nichts von ihrem Kind. „Es gruselt einen bei den Fotos mit den Kofferstapeln voller Kleider“, sagte der Rechtsanwalt Veeru Mewa einer Zeitung, „man will die Sachen in den Niederlanden haben.“

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Der Jurist hat sich schon bei anderen Unglücken um die Rückführung persönlicher Gegenstände bemüht. „Das ist etwas, das man anfassen kann. Man darf nicht unterschätzen, was das bedeutet.“ Ob er aber auch bei MH 17 Erfolg hat, ist zweifelhaft: Es gibt ja die Bilder von Plünderungen und inzwischen auch Geschichten von Hinterbliebenen, die bei verzweifelten Anrufen auf dem Mobiltelefon ihrer Lieben „plötzlich osteuropäische Stimmen“ am Apparat hatten.

Punkte auf einer Karte markieren die Wohnorte der Opfer

Das Einzige, was Bryce’ Mutter bleibt, ist ein neues Foto: Ein Fotograf der New York Times hat es gemacht, er hat die Leere aufgenommen, die die Passagiere von MH 17 hinterlassen haben. Das Schlafzimmer von Bryce. Das Wohnzimmer der Kooijmans. Die Küche der Rotterdamer Restaurantbesitzerin Jenny. Das Büro des Aids-Aktivisten Pim. Die Sonnenliege der Journalistin Sascha. Die Trommeln des Musikers Cor. Verlassen.

Das „Algemeen Dagblad“ hat eine Karte der Niederlande veröffentlicht, auf der rote Punkte die Orte markieren, wo Mitbürger nicht mehr nach Hause zurückkehren. Hinter jeder Marke steht eine Geschichte. Die von Nisha und Rishi aus Amelo auf Hochzeitsreise. Die von Guo aus Amsterdam, der erst elf war und immer lachte. Von Guus und Troos aus Middenmeer, auf die drei Kinder vergeblich warten. Die der vier Radfahrer aus Maastricht. Die der vierköpfigen Familien aus Groningen, Cuijk und Roden, der sechsköpfigen aus Helden und Neerkant, wo die traurige Großmutter nun sagt: „Ich war Oma.“

Gestorben an gebrochenem Herzen

Und es gibt Geschichten, die man sich erzählt. Wie am Mittwoch das Personal eines Hotels auf Bali den Namen einer umgekommenen Familie nicht einfach durchstrich, sondern Blumen auf die gebuchten Betten legte und betete. Und wie Henk Palm starb. 93 Jahre alt, „nach unbeschreiblicher Trauer“. Henk, so steht es in seiner Todesanzeige, verlor im Ferienflieger seine einzige Tochter, die ihn gepflegt hatte, den Schwiegersohn und seine Enkel Merel und Mark. Das 196. niederländische Opfer starb an gebrochenem Herzen.