Boston/Hyannis. . Es gibt viele Orte, an denen heute, 50 Jahre danach, in Amerika des Mannes gedacht wird, der nach landläufiger Überzeugung lange vor seiner Zeit starb: John F. Kenney. In Dallas selbst ist das Areal rund um die Elm Street und das Schulbuchlager Wallfahrtsort und Trauerstätte.

Barbara Sollows-Davis ist das, was man eine gestandene ältere Dame nennen darf. Die 83-jährige Immobilien-Maklerin mit den fein toupierten Locken gibt beim Schlendern durch die lichtdurchfluteten Räume bereits eine halbe Stunde bereitwillig und resolut Auskunft über ihr Verhältnis zu John F. Kennedy - als plötzlich dicke Tränen über ihre Wangen laufen.

Das Foto im Kennedy-Museum in Hyannis auf der schmucken Halbinsel Cape Cod zeigt, wie JFK im September 1963 seinen von Krankheit gezeichneten Joseph Kennedy auf der Veranda eines der Häuser, die bis heute zum riesigen Familienanwesen gehören, auf die Stirn küsst und wehmütig in die Ferne blickt. „Das war das letzte Mal“, sagt Sollows-Davis, „dass der Präsident seinen Vater sah.“ Wenige Wochen später rissen die Schüsse von Dallas den 35. Präsidenten der Vereinigten Staaten aus dem Leben.

Es gibt viele Orte, an denen heute, 50 Jahre danach, in Amerika des Mannes gedacht wird, der nach landläufiger Überzeugung lange vor seiner Zeit starb. Im Henry Ford-Museum in Dearborn/Michigan werden sich die Besucher über das offene Unglücksauto beugen, in dem Kennedy die tödlichen Schüsse abbekam.

Clint Hill, der Secret Service-Agent, der damals auf die hintere Stoßstange sprang und doch zu spät kam, wird mit traurigen Augen berichten. In Dayton/Ohio kann man im Nationalmuseum der US Air Force die präsidiale SAM 2600 besteigen, die Kennedy nach Dallas flog und seine blutüberströmte Leiche zurück nach Washington. In Dallas selbst ist das Areal rund um die Elm Street und das Schulbuchlager, aus dessen Fenster Lee Harvey Oswald geschossen hat, Wallfahrtsort und Trauerstätte.

Zweistündige Tour durch das Herz von Boston

Wirklich näher kommt man dem unkaputtbaren Phänomen Kennedy und den Ursachen für seine „bis heute anhaltende Vergötterung“ dort nicht. Sagt David O‘Donnell, schiebt sich die nassen Haarsträhnen aus der Stirn und die kleine Besuchergruppe, die bei ihm die zweistündige Tour gebucht hat, durch das Herz von Boston.

„In Dallas ist alles zu Ende gegangen“, sagt der studierte Historiker, der seit 2010 die pulsierende Metropole in Massachusetts als begehbares Archiv benutzt, „aber hier hat es angefangen.“ Boston, das Sprungbrett für eine der schillerndsten Politiker-Karrieren aller Zeiten.

O‘Donnell zeigt gegenüber auf eine Allerwelts-Fassade eines Backsteinhauses. „Hier war 1952 die Wahlkampfzentrale, als JFK erstmals für den US-Senat kandidierte.“ Aha. O‘Donnell spürt die überschaubare Begeisterung. Weiter geht es zum Omni Parker House. Eins der ersten Hotels am Ort. Wir klettern die Treppen zum pompösen Speisesaal hoch. Atmosphäre wie in einer großen Zigarren-Schachtel. Hinten links in der Ecke, an Tisch 40, sitzen zwei übergewichtige Schlipsträger beim Lunch. Und? „An diesem Tisch hat JFK seiner Jacqueline den Heiratsantrag gemacht.“

Die Lokalität war praktisch. Kennedy wohnte ums Eck. Nicht weit entfernt vom Union Oyster House, dem ältesten (1825) ununterbrochen betriebenen Restaurant Amerikas. Im ersten Stock steht ein Tisch in einer Nische nahe der Theke. O’Donnell nimmt Platz.

Und erzählt, dass Kennedy hier regelmäßig gemeinsam mit den einfachen Leuten Clam Chowder gelöffelt hat, die berühmte Muschelsuppe Neuenglands. Es sind solche saftigen Details, die von den Besuchern aus aller Welt „gefressen“ werden, berichtet O‘Donnell. Er hat Hilfskräfte eingestellt. Allein kann er die Nachfrage nach Touren durch Kennedys Kinderstube nicht mehr bewältigen. Ein kritisches Wort über den „Helden von Boston“ will ihm partout nicht einfallen.

Erinnerungen an das Attentat von Dallas 

Wenige Meilen entfernt an der Columbia Bay am Hafen von Boston ragt direkt am Wasser ein strahlend weißer Bau des chinesischen Star-Architekten I.M. Pei empor. Die 1979 eröffnete Präsidenten-Library, eine Mischung aus Tempel, Museum und interaktivem Bilderbuch, zieht jedes Jahr Hunderttausende an. Um die nur knapp 1000 Tage währende Präsidentschaft des demokratischen Hoffnungsträgers möglichst anschaulich zu machen, haben die Kuratoren in reduziertem Maßstab einen kompletten Flügel des Weißen Hauses nachgebaut.

Wer durch die Gänge läuft und sich die Nase an den Dutzenden Vitrinen mit Original-Stücken der Weltgeschichte plattdrückt, Kennedys Sprechzettel für die berühmte Rede in Berlin im Juni 1963 ist dort zu sehen, spürt schnell: das Dunkle, das bis heute Unergründete der Hauptperson ist einfach weggelassen worden.

Erinnerungen an das Attentat von Dallas und die Zeit danach - Fehlanzeige. Dafür Bilder-Buch-Szenen, die den Präsidenten im Segelboot zeigen, wie er mit festem Griff die Ruderpinne hält. Kennedys Gesicht ist braun gebrannt. Er trägt eine schicke Sonnenbrille, die Haare sind vom Wind zerzaust. Ein Image der Lebenskraft, das bis heute verfängt. „Ein solcher Mann würde unserem Land heute wirklich gut tun“, sagt Melinda Carter. Die 63-Jährige ist mit ihren Söhnen aus Oregon an die Ostküste geflogen, „damit sie erfahren, was John F. Kennedy für Amerika war.“

Begegnung mit dem Direktor des Kennedy-Museums

Was war er denn? In Hyannis, eine gute Autostunde südlich von Boston, wo JFK seinen letzten Sommer verbrachte, ist für solche Fragen John Allen zuständig. Der ehemalige Banker war im November 1963 gerade 19 und arbeitete in einem Ferienjob als Lagerist. „Plötzlich kam ein älterer Kollege und sagte, es sei etwas Schlimmes geschehen. Danach hingen wir nur noch am Radio und lauschten gebannt.“

Allen ist der Direktor des Kennedy-Museums und an Reaktionen wie die eingangs geschilderten Tränen von Barbara Sollows-Davis gewöhnt. „Die Leute kommen hierher, weil sie sich an eine Zeit erinnern wollen, die ihnen wichtig ist“, sagt er. Verstört werden durch all die Rätsel und Spekulationen, die sich noch immer um den Tod Kennedys ranken, wollten sie nicht.

Die Bilder in Hyannis gleichen darum einem großen Rosamunde Pilcher-Film, den zuletzt 60.000 Besucher im Jahr sahen. Szenen, die den Präsidenten entspannt im Sommerurlaub zeigen, wie er mit seinen süßen Kindern spielt, mit seiner Frau ins Blaue fährt, mit Freunden segelt und lacht, dominieren.

Eigens zum 50. Todestag hat Allen Stellwände aufbauen lassen mit Ausschnitten aus der Lokalzeitung „Cape Cod Times“. „Der Präsident nimmt ein Bad“, lautet eine Schlagzeile. Hofberichterstattung für das Königshaus, das Amerika nie hatte und doch wollte? Allen lächelt. Und zieht eine Münze hervor. Auf einer Seite ist das Konterfei von John F. Kennedy zu sehen. „Seit fast 40 Jahren trage ich so eine Münze mit mir herum. Das ist jetzt meine dritte“, sagt der Museumschef: „Ich werde verrückt, wenn ich die verliere.“

TV-Tipp zu Kennedy 

Am Anfang scherzen sie noch, die Schwestern und Ärzte im Hospital von „Parkland“ (ProSieben, 20.15 Uhr) als sie hören, dass Präsident Kennedy auf dem Weg zu ihnen ist. „Wahrscheinlich hat er eine Grippe.“ Hat er nicht, wie das medizinische Personal schnell feststellt. Von mehreren Schüssen eines Attentäters ist er getroffen worden, dem Tode schon näher, als dem Leben. Und kein Arzt der Welt kann ihn mehr retten.

„Parkland“ zeigt nicht die klassischen Bilder des Attentates. Der Film versucht einen neuen Blick auf die Ereignisse jenes 22. November 1963 zu werfen. Dabei konzentriert sich der von Tom Hanks produzierte Streifen auf die weniger bekannten Charaktere dieser Tragödie.

Zum Beispiel auf den jungen Arzt Dr. Jim Carrico (Zac Efron), der in der Notaufnahme des Parkland Hospital um das Leben des Präsidenten kämpft, auf Forrest Sorrels (Billy Bob Thornton), Leiter des Secret Service in Dallas, oder den Geschäftsmann Abraham Zapruder (Paul Giamatti) der mit seiner Super-8-Kamera zufällig den Augenblick des Attentates auf Zelluloid bannt.

Parkland ist – auch wenn es sich aller Stilmittel Hollywoods bedient – kein klassischer Spielfilm, sondern eine aufwändig gemachte, exakt recherchierte Auflistung der Ereignisse vor und nach dem Attentat. Regisseur Peter Landesman arbeitet nur mit Fakten, nicht mit Spekulationen. (a.b.)