Santiago de Compostela. . Bei einem der schlimmsten Unglücke in der spanischen Eisenbahngeschichte starben mindestens 80 Menschen. Experten rätseln, warum der Lokführer mit 190 Stundenkilometern in die Kurve raste. Die Region Galizien verhängte eine siebentägige Staatstrauer.
Anwohner hörten ein Krachen, die Erde schien zu beben. Dann plötzlich unheilvolle Stille und Rauchsäulen. Am Unglücksort fanden die ersten Helfer ein Horrorszenario: umgestürzte und zertrümmerte Bahnwaggons. Einige hatten sich ineinander verkeilt. Die Wucht des Unglücks war so groß, dass ein Waggon samt Passagieren über eine zehn Meter hohe Schutzmauer geschleudert und teilweise zerfetzt wurde. Der letzte Waggon, an dem ein Triebkopf samt Dieseltank hing, brannte.
Der Schnellzug, der von der Hauptstadt Madrid in die nordspanische Fischerstadt Ferrol fahren sollte, entgleiste am Mittwochabend um 20.42 Uhr. Und zwar wenige Kilometer vor dem Bahnhof der berühmten Pilgerstadt Santiago de Compostela, in der Stunden später das Stadtfest für den Schutzheiligen Santiago (St. Jakob) eröffnet werden sollte. Das Unglück ereignete sich in einer engen Linkskurve, in der die Geschwindigkeit auf Tempo 80 begrenzt war.
„Ich bin mit hundertneunzig gefahren“, soll der nur leicht verletzte Lokführer kurz nach der Katastrophe bei einer ersten Befragung zugegeben haben. Warum, sagte er offenbar nicht. Das Video einer Sicherheitskamera, in dem man sieht, wie der Zug mit großer Gewalt gegen eine Begrenzungsmauer kracht, scheint die Aussage des Maschinisten zu bestätigen. Weshalb reduzierte der Lokführer nicht wie vorgeschrieben das Tempo in dieser Kurve, die als „schwierig“ galt. Warum raste er blindlings in die Katastrophe?
Triebwagen und vier Waggons sprangen aus den Schienen
Im Schnellzug mit 13 Waggons saßen etwa 220 Menschen. Auch ausländische Touristen reisten mit. Pilger, die nach Santiago wollten. Die Triebwagen des Zuges vom Typ Alvia kann mit Strom, aber auch mit Diesel fahren und eine Spitze von 250 Stundenkilometer erreichen. Der Unglückszug hatte fünf Minuten Verspätung. War der Lokführer deswegen mit Vollgas gefahren?
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Polizei und Bahningenieure untersuchten die Zugtrümmer. Die Ermittler hoffen, mit der Auswertung der „Blackbox“, in der alle Fahrdaten aufgezeichnet werden, Klarheit über den Hergang der Tragödie zu bekommen.
Die ganze Nacht bargen die Retter Verletzte und Tote. Unter den vielen Toten und Verletzten waren auch ausländische Reisende, deren Nationalität zunächst nicht bekannt wurde. Die Zahl der Todesopfer könnte noch steigen, warnten die Behörden, etliche Menschen schwebten in Lebensgefahr. Auch die Identifizierung mancher Leichen sei schwierig. Einige Opfer seien verstümmelt worden. Die Bevölkerung wurde zu Blutspenden aufgerufen.
Besonders schlimm hatte es den hinteren Teil des Zuges erwischt: Der gesamte Zugkonvoi war auseinandergerissen worden. Der Triebwagen und die ersten vier Waggons sprangen aus den Schienen und blieben im Gleisbett stehen. Ein Wagen in der Zugmitte wurde in die Luft geschleudert und landete hinter einer zehn Meter hohen Schutzmauer und fast im Vorgarten einiger nahegelegener Häuser. Die hinteren Waggons überschlugen und verkeilten sich auf der Bahnstrecke.
Schnellzug in Spanien entgleist
Feuerwehrleute und Ärzte berichteten von grausigen Momenten: Die Körper mancher Opfer waren durch den Aufprall entstellt. Andere Opfer seien aus den Fenstern geschleudert und dann „von umstürzenden Wagen begraben“ worden. Handys klingelten in den Taschen einiger Todesopfer, die am Bahndamm aufgereiht unter Tüchern und Decken lagen. Blutüberströmte Menschen wurden weggetragen.
Die Aussagen von Passagieren und auch Anwohnern der Zugstrecke sind widersprüchlich: „Als der Zug in die Kurve ging, hatte ich das Gefühl, dass wir zu schnell fuhren“, sagte ein junger Mann namens Sergio, der dem Inferno leicht verletzt entkam.
Anwohner berichteten derweil, sie hätten so etwas wie eine „große Explosion“ gehört. „Ein unheimliches Krachen, als ob sich ein Erdbeben ereignet hätte.“ Höllenlärm, der nach Meinung der Experten aber auch durch einen zerstörerischen Aufprall verursacht worden sein könnte.
Zweitschlimmste Zugkatastrophe in Geschichte Spaniens
Die Region Galizien verhängte eine siebentägige Staatstrauer. Das mehrtägige Volksfest in Santiago de Compostela, mit dem gerade der Namenstag des heiligen Santiago gefeiert werden sollte, wurde abgesagt. In der Stadt leben etwa 100.000 Menschen. Die Kathedrale des Ortes ist das Ziel von Hunderttausenden Jakobspilgern, die jedes Jahr über den Jakobsweg nach Santiago wandern.
Die Zug-Katastrophe von Santiago de Compostela ist die zweitschlimmste in der Geschichte des spanischen Königreiches. Auf der gleichen Strecke, von Madrid nach Galizien, war 1944 ein Passagierzug gegen eine Rangierlok geprallt. Damals sollen rund 500 Menschen gestorben sein. Zu dieser Zeit herrschte Diktator Francisco Franco, der die genaue Opferzahl geheim hielt.