Essen. Das ZDF-Drama „Und alle haben geschwiegen“, das am Montagabend im ZDF gezeigt wird, ist von verstörender Eindringlichkeit. Senta Berger und Matthias Habich brillieren als ehemalige Heimkinder, die von der dunklen Seite der Sechziger Jahre erzählen.
Luisa führt ein unbeschwertes Leben. Himmelt die Beatles an, übt mit den Freunden die neuen Tanzschritte, was man so macht als Teenager in den Sechzigern. Dann erkrankt ihre alleinerziehende Mutter, und Luisa kommt ins Heim. Was eben auch passierte in einer Zeit, deren schrecklich dunkle Seite ein außergewöhnlicher Film enthüllt.
„Und alle haben geschwiegen“ (ZDF , 20.15 Uhr) basiert auf dem Buch „Schläge im Namen des Herrn“ von Peter Wensierski. Der Spiegel-Autor sammelte im Jahr 2006 erschütternde Leidensgeschichten von Heimkindern aus den Fünfzigern und Sechzigern und löste damit eine umfassende Debatte um eine verdrängte Tragödie aus.
Die Aufschreie der Opfer beweisen, dass es nicht um Einzelfälle geht
Das Jugendamt übergab damals die „Fälle“ den beiden großen Kirchen zur „Erziehung“ im Heim, so war die Praxis. Was das wirklich bedeutete, schildert dieser Film. Und dass Luisas Schicksal kein Einzelfall ist, beweisen übrigens die Aufschreie zahlreicher Opfer, die sich nach dem Enthüllungsbuch endlich an die Öffentlichkeit trauten.
Dror Zahavi, der mit „Luftbrücke“ oder „Mein Leben – Marcel Reich-Ranicki“ bereits vorzügliche Dramatisierungen von Zeitgeschichte vorgelegt hat, verdichtet Wensierskis Fallsammlung zum fiktiven Fall der Luisa und bettet die Heimszenen in einen aktuellen Rahmen ein. Mehr als 40 Jahre nach ihrem Martyrium trifft Luisa ihren Freund Paul wieder, mit dem sie das Leid geteilt hatte. In eine Anhörung vor dem Petitionsausschuss des Bundestags werden die Heimerlebnisse eingebettet, und auch diese Zeitsprünge meistert der vorzügliche Film ohne Brüche.
Die Kinder werden mit allen Mitteln gebrochen
Bis aufs Blut gepeinigt wurden besonders die Wehrlosen, die Verschüchterten, wie der kleine Paul – ein Waisenkind, das sich nach einer Odyssee durch die Schattenwelt der Heime längst in die Traumwelt des Buches geflüchtet hat. Bei seiner Abschiebung in eine weitere Anstalt ahnt er noch nicht, dass der Titel seines Lieblingsromans „Herz der Finsternis“ auch über Falkenstein stehen könnte, der wuchtigen Trutzburg, in der Sadisten wie Schwester Ursula ein erbarmungsloses Regiment führen.
„Lasst alle Hoffnung fahren“ scheint über dem mächtigen Portal zu stehen, vor dem auch Luisa ausgesetzt wird. Hinter den Mauern, denen Kameramann Gero Steffen alle Farbe entzogen hat, werden die Kinder mit allen Mitteln gebrochen und als Arbeitskräfte missbraucht. Luisa, soeben noch eine Schülerin mit Bestnoten, steht jetzt jeden Tag zehn Stunden an der Heißmangel. Sich auf ein Leben an der Seite des Mannes vorbereiten und keine Hirngespinste wie den Schulabschluss pflegen, das sei ihre Bestimmung, erklärt ihr die Heimleiterin bei einem Gespräch, das mal nicht im Ton eines Lagerkommandanten geführt wird.
Das Ringen um die Worte wird vom Rohrstock begleitet
Der kleine Paul, der Bücher so sehr liebt, feilt derweil Eisenstücke und muss bei den unablässigen Andachten das Vaterunser vorbeten. Er stottert. Das Ringen um die Worte wird vom Rohrstock begleitet, die Qual in den Kinderaugen schier unerträglich.
Schon nach wenigen Rückblicken kann man verstehen, warum Luisa auch 40 Jahre später jegliche Verharmlosung, jede Anbiederung schroff zurückweist. Das sei doch alles lange her, das war doch damals üblich, dass sich Kinder auch mal eine Ohrfeige einhandelten, erklärt der Kirchenvertreter bei der Anhörung, und Luisa entgegnet: „Aber sie mussten nicht wie wir jede Ohrfeige mit „Gelobt sei Jesus Christus“ beantworten.“
Inzwischen lebt Luisa in Amerika, ist glücklich verheiratet und hat zwei Kinder. Paul hat sich endgültig in die Bücher zurück gezogen. Er ist allein, lehnt jede Annäherung ab. Überwunden haben beide ihr Martyrium nie, wie alle Kinder, die damals gepeinigt wurden.
Senta Berger und Matthias Habich verkörpern die erwachsenen Luisa und Paul mit größter Präzision. Alicia von Rettberg und Leonard Carow sind als Heimkinder von verstörender Eindringlichkeit. Muss man gesehen haben.