Essen. Immer öfter rollen Lkw mit halber Fracht ins Ziel, weil sie unterwegs auf dramatische Weise ausgeraubt worden sind. Die Täter schlagen auf der Autobahn bei voller Fahrt zu. Die Fahrer merken nicht einmal etwas davon. In NRW sind 46 Fälle seit Juni 2012 bekannt geworden.
Die Nacht ist die Zeit der Paketdienste. Von Verladezentren rund ums Revier, aus Köln, Hürth oder Duisburg, bringen sie im Internet bestellte hochwertige Elektronik in die Haushalte des Landes: Handys, Notebooks, Smartphones. Doch 46-mal seit Juni 2012 sind die Lkw nur mit halber Fracht ins Ziel gerollt. Sie sind unterwegs auf dramatische Weise ausgeraubt worden.
Die Polizei hat es so rekonstruiert: Von hinten schießt ein Kombi heran. Bei Tempo 100 klettert ein Mann aus dem Verfolgerfahrzeug auf die Motorhaube, öffnet von dort mit einer Flex die Lkw-Hecktür, springt rüber – und lädt aus. Entweder direkt in den Kombi oder auch in den Straßengraben, wo die Beute später aufgesammelt wird. Der Paketdienstfahrer merkt – offenbar – nichts.
Stecken rumänische Banden dahinter?
Es klingt wie ein unwahrscheinlicher Thriller – und ist doch sehr real. Das Landeskriminalamt warnt die Polizeistationen in NRW in internen Schreiben vor diesem „Truck Robbery“, hinter dem vor allem rumänische Banden stecken sollen. Die Dortmunder Staatsanwaltschaft bestätigt eine einschlägige Ermittlungsgruppe. Sonst hält sie sich bedeckt. Der Fall ist mysteriös.
Lkw-Ladungen abzugreifen ist ein krimineller Sport geworden in den letzten Jahren, teuer für die Versicherer. Er funktioniert mit unterschiedlichen Methoden.
Da ist die Parkplatz-Nummer. An den Autobahn-Raststätten drängen sich die Laster. Die Fahrer müssen, gesetzlich verpflichtet, Pause machen. Kriminelle setzen sie außer Gefecht und entführen Fahrzeug samt Ladung.
Die Maschen der Diebe
Es gibt die Frachtbörsen-Masche. In Frachtbörsen im Internet erteilen Händler Spediteuren oder deren Subunternehmen Transportaufträge. Die Gangster knacken die verschlüsselten Börsenseiten, fälschen Papiere, holen die wertvolle Fracht Stunden vor dem beauftragten Spediteur ab und verschwinden mit der kompletten Beute über die Grenzen.
Rund 1891 Lkw sind alleine 2011 abhanden gekommen, noch viel öfter wurden die Ladungen von Metallteilen oder Elektronik ausgeplündert. Vier Milliarden Euro Schaden soll so in Deutschland entstanden sein, in Europa ist er wohl mehr als doppelt so hoch. Doch die Bundesrepublik ist schon ein Schwerpunkt. Hier ist der Ost-West-Verkehr unterwegs. Die A 2 nennen sie die „Warschauer Allee“. Es sei schwierig, den Überblick über die Schäden zu behalten, sagt Stephan Schweda vom Bundesverband der Versicherungswirtschaft. „Der Versicherungsschutz ist eben über viele Länder verteilt.“
Eine „komische“ Sache
Die Sache mit den Paketdiensten ist neu. Sie sei „irgendwie komisch“, glauben Versicherungsexperten, denn die Schwachstelle ist der auf der Motorhaube balancierende Fracht-Dieb. Er muss sich halten können, um nicht zu Tode zu stürzen. Es gibt eine lange Liste der Voraussetzungen für den erfolgreichen Raubzug: Beide Fahrzeuge, Verfolger und Verfolgter, fahren die gleiche Geschwindigkeit, möglichst mit Tempomat eingestellt. Die Hecktür des Lkw darf nicht zusätzlich gesichert sein. Und die Täter werden schon genau wissen wollen, welche Fracht hinter der Lkw-Türe steckt. Lohnte sich sonst der Einsatz des Lebens?
Tatsächlich schließen auch die Ermittler einen großangelegten Betrug nicht aus, in den mehr als die wagemutigen Motorhauben-Artisten verwickelt sind. Die Polizei prüft „Insiderwissen“.