Essen. Was bedeutet es, wenn ein Mädchen mit einem Messer auf seine Mitschülerin losgeht? Körperliche Gewalt ist nach gängiger Meinung ein eher männliches Problem. Der Erziehungsexperte Prof. Dr. Hans Merkens glaubt schon lange nicht mehr an dieses Klischee.

Die Nachricht war ein Schock: Eine Schülerin ist bewaffnet mit einem Messern auf ihre Mitschülerin losgegangen. Für viele Menschen besonders verstörend an der Tat war, dass sie von einem Mädchen verübt wurde. Handelt es sich nicht bei dem so genannten "schwachen Geschlecht" um den friedliebenden Teil der Bevölkerung? Prof. Dr. Hans Merkens, emeritierter Professor für empirische Erziehungswissenschaft an der Freien Universität Berlin ist da anderer Meinung. Er will mit dem Klischee von der rein männlichen Gewalt aufräumen.

Herr Professor Merkens, Amokläufe oder gewalttätige Übergriffe wie am Montag in St. Augustin geschehen inzwischen ja schon mit einer traurigen Regelmäßigkeit. Doch bislang waren es fast immer Jungen. Die Messerattacke am Albert-Einstein-Gymnasium hat aber ein Mädchen begangen. Ist das verwunderlich?

Merkens: Nein, das hat mich überhaupt nicht gewundert. Ähnliche Taten haben Mädchen in der Vergangenheit schon häufiger begangen, zum Beispiel 2004 in Potsdam. Vandalismus oder die Bedrohung von Lehrern durch Mädchen sind längst an der Tagesordnung.

Doch die besonders schlimmen Taten wie in Winnenden oder Erfurt sind immer von Jungen begangen worden. Neigen Jungs eher zu Gewaltausbrüchen?

Merkens: Lange Zeit ist man in der Jugendforschung davon ausgegangen, dass Jungen eher physische Gewalt ausüben, während Mädchen hauptsächlich verbal gewalttätig sind, zum Beispiel indem sie andere mobben. Dieser Standpunkt erscheint mir überholt: Auch Mädchen üben körperliche Gewalt aus.

Gibt es im Umgang mit Gewalt Unterschiede zwischen Jungen und Mädchen?

Merkens: Man muss differenzieren zwischen Gewalt gegen andere und Gewalt gegen sich selbst. Mädchen richten ihre Gewalt öfter gegen sich selbst. Etwa durch Selbstverstümmelungen oder Essstörungen.

Warum läuft ein Mädchen dann bewaffnet mit mehreren Messern in eine Schule und verletzt eine Schülerin?

Merkens: Bei einer solchen Tat handelt es sich um einen inszenierten Selbstmordversuch. Jugendliche sind generell eine selbstmordgefährdete Gruppe. Und solche Amoktaten sorgen dafür, dass ihr Bedürfnis zur Selbsttötung entsprechende Aufmerksamkeit bekommt.

Woran liegt es, dass man noch immer schockierter ist, wenn ein Mädchen solch eine Messerattacke verübt, als wenn es ein Junge gewesen wäre?

Merkens: Das liegt an unseren Erwartungsstrukturen: In unseren Köpfen sind noch immer Klischees manifestiert, nach denen Jungen sich prügeln und Mädchen eher friedfertig sind. Doch es ist längst so, dass die Differenzen zwischen den Geschlechtern schwinden. Frauen können heutzutage alles tun, was Männer auch tun können, sei es im Job oder im Privatleben. Auch ihre Erziehung hat sich angeglichen.

Dass heißt, der gesellschaftliche Wandel hin zu Emanzipation und Gleichberechtigung hat die Mädchen gewaltbereiter werden lassen?

Merkens: Die verringerte Kontrolle in den Familien und in der Öffentlichkeit generell hat es. Früher wurden Mädchen in ihrem Verhalten stärker reglementiert. Die zunehmende Freiheit hat sie enthemmt.

Kann es auch daran liegen, dass Jungen in ihrem Alltag eher mit Gewalt konfrontiert werden. Frei nach dem Motto: Es schlägt der, der geschlagen wurde?

Merkens: Natürlich spielt Gewalt im Leben eines Jungen eine größere Rolle als bei Mädchen: Sie prügeln sich häufiger und werden mehr geprügelt. Körperliche Gewalt wird bei ihnen als normaler empfunden. Dennoch hinkt der Zusammenhang zwischen erlittener Gewalt und Gewaltbereitschaft etwas. Viele Kinder, die geschlagen werden, üben niemals Gewalt aus. Und da gibt es keine Unterschiede zwischen Mädchen und Jungen.

Es kommt also auf die Sozialisation an und nicht auf das Geschlecht?

Merkens: Genau. Meiner Meinung nach ist Gewalt keinesfalls genetisch bedingt. Das zeigen auch kulturelle Unterschiede: Unter islamistischen Terroristen gibt es zum Beispiel sehr viele Frauen.

Dabei werden muslimische Mädchen häufig ja stärker von ihren Familien kontrolliert. Warum gibt es dann viele islamistische Terroristinnen?

Merkens: Islamische Famlien kontrollieren ihre Töchter meist stärker. Dennoch spielt die Leidenschaft für die Religion bei Muslimen auch oft eine größere Rolle. In religiösen Dingen dürfen Frauen sich genauso aktiv beteiligen wie Männer. Islamistische Terroristinnen versuchen mit ihrem Kampf dem Himmel genauso nah zu kommen wie die Männer.

Hat die Gewaltbereitschaft von Mädchen in den vergangenen Jahren zugenommen?

Merkens: Ja, diesen Trend gibt es. Allerdings bewegt sich der Anteil gewaltauffälliger Mädchen noch immer am unteren Rand: Wenn wir davon ausgehen, dass zwei bis zehn Prozent der Jugendlichen in Deutschland eine Gewaltauffälligkeit zeigen, liegt der Anteil der Mädchen bei zwei bis fünf Prozent. Auffällig ist allerdings, dass die Bereitschaft zu kollektiver Gewalt von Mädchen zugenommen hat.

In Form von aggressiven Mädchen-Gangs?

Merkens: Genau. Vor zwanzig Jahren konnte man sich prügelnde und pöbelnde Mädchen-Gangs noch gar nicht vorstellen. Davon gibt es aber immer mehr.

Sind Mädchen eine Risikogruppe, was die Gewaltbereitschaft angeht?

Merkens: Nicht unbedingt, Jungen sind da eher gefährdet. Untersuchungen zeigen, dass Jungs in der Schule benachteiligt werden und viel häufiger Versagenserfahrungen erleiden müssen. Mädchen schneiden bei der Ausbildung längst besser ab. Und Bildung ist immer ein guter Schutz vor der Ausübung von Gewalt.

Die Amok-Täter von Erfurt und Winnenden wurden als introvertierte Jungen beschrieben, die wenig Kontakt zu Mitschülern und Freunden hatten. Mädchen sind in der Regel ja mitteilungsbedürftiger und pflegen eher ihre Sozialkontakte. Schützt sie dieses Verhalten vor solchen Verzweiflungstaten?

Merkens: Nein. Es gibt auch jede Menge introvertierte und sozial isolierte Mädchen mit erheblichen Kommunikationsschwierigkeiten. Das Klischee von den Mädchen, die zuhause beim Kaffeeklatsch sitzen und den Jungs, die rausgehen und sich aggressiv verhalten, ist ein Schubladendenken, das sich nicht mit der Realität deckt.

Was können zum Beispiel Eltern und Lehrer tun, um die Gewaltbereitschaft von Mädchen zu verringern beziehungsweise zu verhindern?

Merkens: Die Gesellschaft muss Mädchen – übrigens genau wie Jungen –, die Gefahr laufen, die potentiellen Verlierer und Verliererinnen unseres Systems zu werden, die Perspektive zum Gewinnen eröffnen. Kinder mit Erfolgerfahrungen werden selten gewalttätig.

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