Essen. Zwei Frauen ermahnen drei Teenager, im Bahnhof nicht Fußball zu spielen - und wurden dafür zusammengeschlagen: Der Vorfall vom Wochenende hat eine neue Diskussion über Sicherheit und Zivilcourage entfacht. Derweil läuft die Suche nach den Schlägern weiter. Am Mittwoch sollen die Opfer erneut befragt werden.
Beim nächsten Mal würden es die beiden Frauen vermutlich anders machen: Hilfe holen oder einfach weiterlaufen. Wie die anderen. Aber wer hätte damit rechnen können, dass die Jugendlichen so brutal reagieren?
Am Mittwoch sollen die beiden Frauen, die am Samstag im Mönchengladbacher Hauptbahnhof zusammengeschlagen worden waren, erneut von der Polizei befragt werden. Knochenbrüche im Gesicht und Prellungen am Körper hatten die 39-jährige Kölnerin und ihre 35-jährige Freundin aus Mönchengladbach von den Schlägen und Tritten davon getragen - weil sie drei Jugendliche baten, sich einen anderen Platz zum Fußballspielen zu suchen als die Bahnhofshalle.
Noch immer sind zwei der drei Täter nicht gefasst. Der Hauptschläger, ein 15-Jähriger, den die Polizei wegen „etlicher Raub- und Gewaltdelikte bestens kennt“, äußert sich nicht zu den Gründen für seinen Gewaltausbruch. Inzwischen haben sich weitere Zeugen gemeldet. Mit ihren Aussagen und durch Ermittlungen im Umfeld des Haupttäters hoffen die Beamten weiterzukommen.
Eigentlich alles richtig gemacht
Die beiden Frauen werden viel Zeit brauchen, die Tat zu verarbeiten. „Das Fatale ist, dass sie aus ihrer Sicht alles richtig gemacht haben“, sagt Veit Schiemann von der Opferhilfe „Weißer Ring“. Für ihr moralisch richtiges Eingreifen seien die Frauen mit Folgen konfrontiert worden, mit denen sie nicht hätten rechnen können.
Sich stark machen
Ich pendele mit der Bahn zur Arbeit. Allerdings ist Zugfahren nichts für Leute mit schwachen Nerven.
Sei es, dass man Fußballfans oder Jugendliche an Bord hat, die schon einmal in der Bahn mit Bierchen und/oder Schnaps „vorglühen“ wollen. Wo sie sitzen oder stehen, klebt man fest. Weil der Zug auch noch ordentlich Flüssiges abbekommt. Gerne wird auch wild geschrien und/oder gegen die Scheiben getrommelt. Oder es werden kleine Mädchen mit Sprüchen unter der Gürtellinie belegt. Für Bemerkungen wie „Jetzt langt es aber langsam“ habe ich mir schon oft Sätze wie „Halt die Schnauze, Alte“ eingefangen.
Mit drei wohl 15-Jährigen bin ich in einer solchen Situation einmal körperlich auf Konfrontationskurs gegangen. Ich habe mich mit meinen 1,80 Meter vor den Pöbel-Jungs breit gemacht. Einer kam mir so nah, dass er mir beinahe auf den Schuhen stand. Außer wüsten Beschimpfungen habe ich nichts abbekommen. Mitreisende Männer starrten vor sich hin.
Nicht zu vergessen, die Zugreisenden, die das, was sie nicht mehr essen wollen, einfach fallen lassen, die ihre Schuhe auf Bahnsitzen platzieren oder ihren Alkoholmagen im Zug-Abfalleimer entleeren. Alles erlebt! Ich war auch schon mit Rechtsradikalen unterwegs, die mich und andere Frauen in ein anderes Abteil trieben. Weil sie mit ihren Springerstiefeln durch den Gang tobten und in unsere Richtung traten. Einen Sicherheitsdienst gab es nicht. Zum Glück stiegen sie schnell aus. Um sich noch zu prügeln, wie sie uns wissen ließen. Jutta B., Witten
„Die Zivilcourage ist diesem Fall schief gegangen. Das kann passieren.“ Dieses ernüchternde Urteil formuliert Johannes Bachteler, Sprecher des Verkehrsverbunds Rhein-Ruhr (VRR). Immer wieder sorgen brutale Überfälle an Bahnhöfen für Schlagzeilen. Der öffentliche Raum ist nach Bachtelers Ansicht nicht der Grund, sondern nur der Schauplatz für Übergriffe dieser Art. Der VRR will die Bevölkerung stärker für das Thema Zivilcourage sensibilisieren. Er gründete 2011 gemeinsam mit dem Sicherheitsunternehmen Kötter die Stiftung „Mutiger“. Durch Schulungen sollen Teilnehmer das richtige Verhalten bei gefährlichen Situationen in Bus und Bahn lernen.
Eine Gratwanderung
Eingreifen oder Wegschauen, wenn junge Leute Sitze in der Bahn beschmieren, wenn sie sich im Nichtraucherbereich eine Zigarette anzünden oder eben Fußball spielen, wo sie nicht dürfen? Die Entscheidung sei eine Gratwanderung, glaubt Schiemann vom Weißen Ring. Lebensnotwendig sei Zivilcourage, wenn Menschen bedroht seien. Aber selbst da gelten Grundsätze.
Ulrich Rieger vom Bündnis für Toleranz und Zivilcourage in Duisburg rät: „Wenn man dazwischen geht, bitte nicht alleine den Helden spielen, sondern immer mit mehreren auftreten und versuchen, die Situation im Ansatz zu entschärfen.“ Die oberste Priorität müsse sein, sich selbst nicht zu gefährden. „Wenn man merkt, dass die Situation aus dem Ruder läuft, muss man in jedem Fall Kontakt zur Polizei aufnehmen.“
Alle schauten weg
Es war am Duisburger Bahnhof. Am späten Nachmittag. Es war voll. Eine Frau drängelte sich an mir vorbei. Ich sagte ihr: „Immer mit der Ruhe.“ Da drehte sie sich um, schrie in gebrochenem Deutsch: „Du hast mein Ungeborenes getötet“ und schlug mir mit voller Wucht ins Gesicht. Ich versuchte, mich zu schützen, fiel hin und schrie verzweifelt um Hilfe.
Ich weiß nicht, warum, aber ich konnte mich nicht wehren. Dabei war es eine kleine, zierliche Frau. Sie schlug weiter. Sie muss gestört sein, dachte ich. Sie schlug, aber verfehlte mein Gesicht.
Es waren nur Sekunden, aber es fühlte sich an wie ein ewig langer Film. Ich schaute nach rechts, sah diese vielen Beine der Passanten. Sah nach links, da sah ich die Gesichter der Verkäuferinnen in der Bäckerei, in der ich täglich einkaufte. Sie schauten weg. Ich schrie um Hilfe. Nichts passierte. Polizei war auch nicht in Sicht.
Irgendwann ging ein Afrikaner dazwischen. Ein junger Mann. Ich war ihm unendlich dankbar. Die Frau schlug auch ihn. Keiner blieb stehen. Dann kam der Lebensgefährte der um sich schlagenden Frau. Er zerrte sie weg.
Ich rappelte mich auf. Ging sofort Richtung Bäckerei und fragte, warum nicht einer von ihnen die Polizei gerufen hat. Obwohl ich über Jahre Kundin war, guckten die kaum hoch. Eine der Frauen nuschelte etwas wie: „Wir haben nichts gesehen.“
Ich wollte nur noch weg. Selbst heute, Jahre später, spüre ich noch dieses Unbehagen. Sicher fühle ich mich seitdem nicht mehr. Petra B., Bochum
Diese Chance hatte Elisbeth Sistig nicht, als sie sich entschied, zu handeln. Knapp ein Jahr ist das her. Mit den Folgen hat die 86-jährige Duisburgerin noch immer zu kämpfen. Ihr rechter Arm ist steif und schmerzt, wenn sie ihn belastet. Der Mann brach ihr damals das Handgelenk, schlug ihr ins Gesicht und stieß sie zu Boden. Die Rentnerin hatte aus dem Fenster beobachtet, wie er ein siebenjähriges Mädchen festhielt und mit sich zog. „Ich hätte mir nie verziehen, wenn dem Kind etwas passiert wäre“, sagt sie heute. Damals verließ sie ihre sichere Wohnung und griff ein.
Auch positive Beispiele
Ob sie in Mönchengladbach dazwischen gegangen wäre? Elisabeth Sistig zögert mit der Antwort. „Ich weiß, wie schnell man am Boden liegt. Ich würde eher die Polizei rufen“, sagt sie schließlich.
Es gibt aber auch positive Beispiele. Etwa das vom Essener Nachtexpress-Busfahrer Ulrich vom Berg. Im April wurde er von einem betrunkenen Fahrgast angegangen. Die Situation wäre eskaliert, wenn nicht einige Fahrgäste eingeschritten wären. Vom Berg bedankte sich mit einer Zeitungsanzeige: „Ich möchte mich für das couragierte Verhalten meiner Fahrgäste bedanken.“