Emden. Ein falscher Verdächtiger, ein nicht vollstreckter Durchsuchungsbeschluss: Die Liste der Ermittlungspannen im Mordfall Lena wird länger. Jetzt wird bekannt, dass der Tatverdächtige 2010 den Missbrauch einer Siebenjährigen angezeigt hatte. Experten erheben schwere Vorwürfe gegen die Polizei. Derweil suchen Taucher in Emden nach der Tatwaffe.
Die Ermittlungspannen im Mordfall Lena aus Emden sind noch weitreichender als bislang angenommen. Im Oktober 2010 hatte der heute 18-Jährige eine Siebenjährige in seinem Elternhaus entkleidet und nackt fotografiert, wie Niedersachsen Innenminister Uwe Schünemann (CDU) am Mittwoch in Hannover sagte. Den Fall zeigte der junge Mann im Herbst 2011 selbst bei der Polizei an. Dort war er mit einem Betreuer erschienen, da er sich zuvor in psychiatrischer Behandlung befunden hatte.
"Es ist nicht nachvollziehbar, dass nicht unmittelbar Maßnahmen ergriffen wurden", sagte Schünemann. Bereits zwei Monate zuvor hatte der Stiefvater Anzeige wegen des Besitzes kinderpornografischen Materials gegen den jungen Mann erstattet. Beide Verfahren seien zusammengeführt worden, allerdings wurde dies dann unter dem Stichwort Kinderpornografie geführt. "Das hätte richtigerweise unter sexuellem Missbrauch geführt werden müssen", sagte Landespolizeidirektor Volker Kluwe. Damit hätten von dem Verdächtigen etwa Fingerabdrücke genommen werden müssen.
Nach den Ermittlungspannen könnten neben den disziplinarrechtlichen Maßnahmen
auch strafrechtliche Konsequenzen auf die zuständigen Polizisten zukommen. Eine
Prüfung bei der Staatsanwaltschaft Aurich sei beantragt worden, sagte Kluwe. Möglich sei etwa der Vorwurf der Strafvereitelung, sagte Kluwe.
Allerdings müsse hierfür ein Vorsatz gegeben sein. Disziplinarmaßnahmen
gegen mehrere Sachbearbeiter und zwei Vorgesetzte der Polizeiinspektion Aurich
wurden bereits eingeleitet.
Kriminologe Egg wirft Polizei im Fall Lena Nachlässigkeit vor
Nach den Pannen bei einer früheren Ermittlung gegen den Verdächtigen im Emder Mädchenmordfall hat der CSU-Innenpolitiker Hans-Peter Uhl eine eingehende Aufklärung gefordert. Der Vorfall müsse "minutiös" aufgeklärt werden, forderte der innenpolitische Sprecher der Bundestagsfraktion von CDU und CSU in der "Neuen Osnabrücker Zeitung". Es müsse geklärt werden, ob bei den Ermittlungen gegen den 18-Jährigen "geschlampt" worden sei.
Der Direktor der Kriminologischen Zentralstelle von Bund und Ländern, Rudolf Egg, macht der Polizei schwere Vorwürfe. Wenn schon jemand zur Polizei komme und sage, er habe eine pädophile Neigung und wolle einen Schlusspunkt setzen, dann sei das auch eine Art Hilferuf, sagte Egg in den ARD-"Tagesthemen". "Im Interesse des Opferschutzes kann man so jemanden nicht einfach gehen lassen".
Er betonte, dass ein erlassener Durchsuchungsbeschluss nicht vollstreckt wird, sei ihm in dieser Form noch nicht begegnet. "An sich kann das schon mal ein paar Tage dauern, in der Regel würde man das aber unverzüglich machen", sagte Egg.
Schünemann: Ermittlungspanne hat Konsequenzen
Niedersachsens Innenminister Uwe Schünemann (CDU) hat nach der schweren Ermittlungspanne Konsequenzen angekündigt. "Dass das nicht ohne Folgen bleiben kann, ist für mich klar", sagte Schünemann im ZDF-"Morgenmagazin" am Mittwoch. Jetzt müssten die polizeiinternen Ermittlungen schonungslos geführt werden. Die Frage, ob der Mord an der Elfjährigen hätte verhindert werden können, treibe ihn um, sagte Schünemann weiter. Man sei es den Angehörigen schuldig, sie zu beantworten.
Taucher suchen derweil nach der Tatwaffe. Begonnen worden sei damit in dem Gewässer der städtischen Wallanlagen, sagte der Leiter des Zentralen Kriminaldienstes in Emden, Martin Lammers. An der Suche sei eine "größere Zahl von Tauchern" aus Hannover und Oldenburg beteiligt. Ein Suchhund habe die Ermittler auf die Spur geführt, dass das Tatwerkzeug möglicherweise in dem Graben liegen könne.
Polizei räumt Ermittlungsfehler ein
Die Polizei hatte bereits am Dienstag Ermittlungsfehler eingeräumt. Der spätere mutmaßliche Täter zeigte sich im Herbst wegen Kinderpornographie selbst an, doch die Beamten ermittelten offensichtlich nicht konsequent genug gegen ihn.
Der 18-jährige Tatverdächtige sei bereits im November auf dem Polizeirevier Emden erschienen, um sich wegen seiner pädophilen Neigungen selbst anzuzeigen, sagte der Vizepräsident der Polizeidirektion Osnabrück, Friedo de Vries, am Dienstag auf einer Pressekonferenz in Osnabrück. Dabei habe der spätere mutmaßliche Täter angegeben, Fotos von einem unbekleideten Kind gemacht zu haben. Weil der Fall damals nicht weiterverfolgt worden ist, nahm die Polizeidirektion nun interne Ermittlungen wegen polizeilichen Fehlverhaltens auf.
Verdächtiger wollte "einen Schlusspunkt" setzen
Die Polizei Emden gab den Fall den Angaben zufolge an die damals zuständige Polizeiinspektion Aurich/Wittmund weiter, die beim Amtsgericht Hannover im Dezember 2011 einen Durchsuchungsbeschluss für die Wohnung des 18-Jährigen erwirkte. Dieser sei von der Polizeiinspektion Aurich/Wittmund aber bis zur Festnahme des jungen Mannes am Sonntag nicht umgesetzt worden.
Der Verdächtige wollte mit der Selbstanzeige nach eigenen Angaben "einen Schlusspunkt" setzen, fügte de Vries hinzu. Die Verzögerungen bei den Ermittlungen seien "nicht nachvollziehbar".
Die Staatsanwaltschaft Hannover beteuerte derweil rasches Handeln. Die Strafverfolger hätten "schnell und zügig alles Nötige veranlasst", sagte Staatsanwältin Kathrin Söfker der "Neuen Osnabrücker Zeitung". Ihre Behörde erhielt demnach am 9. Dezember 2011 Akten aus Aurich. Daraufhin sei am 14. Dezember ein Durchsuchungsbeschluss beantragt und sechs Tage später erlassen worden. Am 21. Dezember sei dieser nach Aurich gesendet worden und soll dort am 30. Dezember eingegangen sein. Inwieweit ein Fehlverhalten der örtlichen Polizei vorliege, sei nun Gegenstand der Untersuchung und müsse abgewartet werden, sagte Söfker weiter.
Gewerkschaft der Polizei warnt vor einer Vorverurteilung
Die Gewerkschaft der Polizei (GdP) warnt vor einer Vorverurteilung. Er maße sich nicht an, ein Vorurteil oder Gerücht in die Welt zu setzen, sagte der GdP-Bundesvorsitzende Bernhard Witthaut im ZDF-"heute journal". Zunächst gelte es, die Vorgänge gründlich aufzuarbeiten. Dann könnten Konsequenzen gezogen werden.
Der Kriminologe Christian Pfeiffer ist der Ansicht, dass eine Hausdurchsuchung beim mutmaßlichen Mörder den Tod des Kindes nicht zwangsläufig verhindert hätte. "Man kann nicht sicher behaupten, danach wäre er sowieso in U-Haft gekommen und Lena würde leben", sagte der Direktor des Kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsen in der TV-Sendung "NDR aktuell".
Pfeiffer betonte, die Reaktion der Polizei auf die Selbstanzeige des 18-Jährigen sei erstaunlich passiv gewesen. "Jeder weiß, gerade in diesen jungen Jahren ist man noch sehr therapiefähig". Wenn die Polizei konkret beispielsweise nach dem Therapeuten des Jungen gefragt hätte, "dann hätte etwas in Gang kommen können, das die ganze Geschichte gedreht hätte", sagte Pfeiffer.
Lenas Todesursache weiterhin unbekannt
Unbekannt blieb zunächst, wie Lena ermordet wurde. Das Obduktionsergebnis belege, dass das Mädchen erstochen wurde, berichtete die "Bild"-Zeitung vorab. Demnach erlag die Elfjährige "mehreren Stichverletzungen". Die Emder Polizei wollte zur Todesursache und dem Obduktionsergebnis auf dapd-Anfrage weiterhin keine Angaben machen.
Lena war am 24. März in einem Parkhaus in Emden tot aufgefunden worden. Sie wurde der Polizei zufolge Opfer einer Sexualstraftat. Nach der Freilassung eines zu Unrecht der Tat bezichtigten Jugendlichen wurde am Sonntag Haftbefehl gegen den 18-jährigen Tatverdächtigen erlassen. Er hat die Tötung gestanden.
Bis zum Jahr 2009 hatte der Tatverdächtige in Unna gewohnt. Auch dort sei er kriminell aufgefallen, allerdings nicht wegen Sexualdelikten, sagte eine Polizeisprecherin in Unna.
Nach dem Mord an Lena hatte es Lynchaufrufe im Internet gegen den ersten Verdächtigen gegeben. Emden will nun ein Zeichen gegen Vorverurteilungen und Selbstjustiz setzen. Stadtverwaltung, Kirchen, DGB und Stadtsportbund riefen die Bevölkerung zu einer Solidaritätsveranstaltung am Freitag vor dem Emder Rathaus auf. Dort soll die Solidarität mit allen Opfern und Betroffenen der Tragödie bekundet werden. (dapd/afp)
Kommentar: Im Fall Lena zeichnet sich ein Polizeiskandal ab