Essen/Emden. . Nach dem Mord an einer Elfjährigen in Emden ermittelt die Polizei gegen einen weiteren 18-Jährigen. Er soll auf Facebook zum Lynchmord aufgerufen haben, als die Emder Polizei in der vergangenen Woche einen 17-Jährigen des Mordes verdächtigte. Der Fall lässt die Wogen im Internet hochkochen.

Es war ein Satz auf Facebook, wohl aus Wut, Frust und unter Alkoholeinfluss ins Netz getippt, als in England im vergangenen August die Krawalle hochschlugen: "Lasst uns Randale in Latchford machen", hatte ein 22-Jähriger via Facebook verbreitet. Ein Gericht wertete das als Aufruf zur Randale und verurteilte ihn und einen weiteren jungen Mann zu jeweils vier Jahren Haft. Beim Mordfall "Lena" in Emden hat die Justiz jetzt auch Facebook im Visier: Sie ermittelt gegen einen 18-Jährigen, der in der vergangenen Woche in dem sozialen Netzwerk zur Lynchjustiz aufgerufen haben soll. Das könnte mit bis zu fünf Jahren Freiheitsstrafe geahndet werden.

Ein Zeuge hatte die Polizei auf den Facebook-Eintrag aufmerksam gemacht, der von einem 18-Jährigen aus Ostfriesland stammen soll: "Er hat darin zur Erstürmung des Emder Polizeipräsidiums aufgerufen", erklärt ein Sprecher der zuständigen Staatsanwaltschaft in Aurich. Ein Vergehen gegen § 111 des Strafgesetzbuchs ("Öffentliche Aufforderung zu Straftaten").

Der Aufruf hatte Folgen: Ein wütender Mob von etwa 50 Personen hatte sich - angestachelt durch diesen Facebook-Eintrag, so bewertet es die Staatsanwaltschaft - am vergangenen Dienstag vor der Emder Polizeiinspektion versammelt, wenige Stunden nachdem bekannt gegeben worden war, dass die Polizei dort einen 17-Jährigen aus Emden wegen Mordverdachts vernimmt.

Innenminister nimmt Polizei vor Kritik in Schutz

Auch eine Woche danach schlagen die Wogen hoch. Niedersachsens Innenminister Uwe Schünemann (CDU) verteidigte am Montag die Polizei gegen Kritik. Die Ermittler hätten "sehr professionell" und "völlig richtig" gehandelt, sagte Schünemann. Ein 18-Jähriger hatte die Tötung des Mädchens am Wochenende gestanden, nachdem zwischenzeitlich ein 17-jähriger Schüler inhaftiert worden war, der sich dann allerdings als unschuldig erwies.

Eine 40-köpfige Mordkomission will nun "alle Hinweise" verfolgen, zumal der 18-Jährige bis dato nur ein Teilgeständnis abgelegt hätte, sagte eine Polizeisprecherin am Montag in Emden. Die Beamten würden aber auch in den Blick nehmen, was sich um den Mord herum im Internet ereignet hat - möglicherweise werde es Ermittlungen auch gegen weitere Facebook-Nutzer geben, "wenn es die weiteren Ermittlungen ergeben", sagte die Sprecherin.

Eine Melange aus Wut, Trauer bis hin zu Mordaufrufen brodelte auf Facebook hoch, schon kurz nach der Meldung vom Leichenfund in einem Emder Parkhaus. Das hat sogar Juristen aufschrecken lassen: Von einem "einmaligen Fall", der ihm bis dato in Deutschland noch nicht bekannt geworden sei, spricht etwa Strafrechtsexperte Nikolai Venn vom Deutschen Anwaltsverein. Er warnt vor den Gefahren sozialer Netzwerke: "Diese bieten sich natürlich zu solchen Aufrufen an, weil damit eine sehr schnelle Verbreitung möglich ist". Auch wenn niemand der Aufforderung folgt, drohe wegen eines solchen Aufrufs eine Geldstrafe oder sogar eine Freiheitsstrafe von bis zu fünf Jahren, erklärt Venn.

Auch beim Deutschen Richterbund in Berlin spricht Geschäftsführer Sven Rebehn auf Anfrage von einem "neuen Phänomen"; er vergleicht es mit den Facebook-Partys: "Wenn das um sich greift, wir das zu einem Problem".

Menschliche Abgründe und Kritik an einer zu laschen Justiz 

Für so ungewöhnlich hält Ingo Fock die Woge der Entrüstung auf den Mädchenmord indes nicht, auch nicht die Mordaufrufe. Fock ist 1. Vorsitzender vom Verein "Gegen Missbrauch e.V.". Kindesmissbrauch sei ein hoch emotionales Thema, sagt Fock, "da tun sich menschliche Abgründe auf", wenn man sieht, was im Internet unter dem Deckmantel der Anonymität geäußert werde. Vielfach macht Fock "Wut und Hilflosigkeit" als Motiv für Online-Debatten aus, die auch im Fall Lena vielfach von einem großen Misstrauen und Frust gegenüber der deutschen Justiz zeuge. Einige Meinungen aus Kommentaren der Facebook-Gruppe "WIR gegen Kinderschänder":

  • "Na, mit größter Wahrscheinlichkeit wird der 18-Jährige entsprechend der gängigen Rechtssprechung nach Jugendstrafrecht verurteilt. Alles andere wäre schon wieder ein Diktat der Strasse."
  • "Wenn er es ist, wird der sowieso ja wieder net lange sitzen, da er ja noch keine 21 ist. Somit würde der Mörder dann wieder frei rum laufen in einigen Jahren und es müssten sicherlich wieder unschuldige Menschen oder vlt. sogar wieder n unschuldiges Kind/unschuldige Kinder sterben, gaaaaaaaanz toll... :-( :("
  • "Solange Kinderschänder und U-Bahnschläger Bewährung bekommen, stimmt irgendwas mit unserer Rechtsprechung nicht!"
  • "Es kann so nicht weitergehen. Wir muessen auf die Strasse. Dringend muessen die Gesetze geaendert werden. Wenn die Psychologen die Taeter gerne theraphieren wollen - koennen sie es gerne tun, hinter einer verschlossenen tuer auf Lebenszeit.

Mehrere Hundert Kommentare gepaart mit "Find ich gut"-Empfehlungen fanden sich alleine auf dieser Facebook-Seite, deren Macher in den vergangenen Tagen Dutzende von Einträgen gelöscht haben dürften. Auch dort brach sich vereinzelt der Mob Bahn, schwadronieren Kommentatoren aber auch jetzt noch über "chemische Kastration" für Sexualstraftäter und andere Bestrafungs-Szenarien.

Medienkritik, aber auch Selbstkritisches

Wie ein kühler Wasserstrahl prallte dann die Nachricht auf den Wut-Ballon, dass der anfangs festgenommene 17-Jährige doch nicht der Täter ist. Als die Polizei schließlich einen neuen Verdächtigen präsentierte, der auch ein Geständnis ablegte, verlagerte sich die Debatte auf mehrere Felder: Einige Facebooknutzer wähnten sich sogleich als Opfer von Medien und Polizei, andere übten Kritik an der Facebook-Gemeinde selbst: "Solange ein Verdächtiger vom Mob gelyncht werden soll und sich tausende Kommentatoren auf Seiten, die gegen Kindesmissbrauch sind, gegen einen 17-Jährigen stellen, stimmt etwas in unserer Gesellschaft nicht!"

Dass etwas nicht stimmt, meint auch Ingo Fock, aber mit Blick auf die Justiz: "Ein bisschen ist die Justiz selbst Schuld", wenn es im Zusammenhang mit Straftaten an Kindern zu solchen Wogen komme. "Das Strafmaß bei Kindesmissbrauch wird in den seltensten Fällen ausgereizt", bemängelt Fock. Sexueller Missbrauch (§ 176 Strafgesetzbuch) werde im deutschen Strafrecht als "Vergehen" gewertet, nicht als Straftat. Wenn Gerichte selbst bei schwersten Vergehen Strafen zur Bewährung aussetzten - wie zuletzt im Missbrauchsprozess gegen einen Lehrer vor dem Landgericht Koblenz - , "ist die Wut bei den Menschen nachvollziehbar". Man sollte sich allerdings nicht zu Lynchmord-Aufrufen versteigen, findet Fock: "Die Wut sollte sich gegen die Politik richten." Damit die Politik die Gesetze, wo nötig, verschärft. (mit Material von dapd und afp)