Berlin. . Junge Menschen stehen unter enormem Leistungsdruck, schauen aber trotzdem zuversichtlich in die Zukunft. Das ist das zentrale Ergebnis der Studie „Wie ticken Jugendliche 2012“. Auffällig: Sozial Benachteiligte werden vor allem von Jugendlichen aus der gesellschaftlichen Mitte an den Rand gedrückt.

Die Lebenswelten der Jugendlichen driften immer weiter auseinander. Trotz eines enormen Leistungsdrucks schauen die meisten 14- bis 17-Jährigen in Deutschland aber durchweg zuversichtlich in die Zukunft. Das ist das zentrale Ergebnis der Studie „Wie ticken Jugendliche 2012“, die in Berlin vorgestellt wurde. Statt mit Protest reagierten die Jugendlichen mit Pragmatismus auf diesen Druck, so Studien-Autor Marc Calmbach vom Sinus-Institut. Ideologien suche man bei den meisten vergeblich.

Allerdings führe der Druck zu einer zunehmenden Entsolidarisierung unter den Jugendlichen. „Sozial Benachteiligte werden vor allem von Jugendlichen aus der gesellschaftlichen Mitte an den Rand gedrückt, die ihnen zu geringe Leistungsbereitschaft vorwerfen“, so Calmbach. Rund sieben Prozent der Jugendlichen lebten in dieser „prekären Lebenswelt“. Diese Jugendlichen sähen sich von der Gesellschaft „abgehängt“. Die Gefahr einer womöglich gewalttätigen Protestwelle sehen die Autoren der Studie derzeit indes nicht.

Viele Jugendliche erscheinen wie „Mini-Erwachsene“

Alle Jugendlichen reagierten auf den wachsenden Druck mit einem stärkeren „Bedürfnis nach Halt, Zugehörigkeit und Vergewisserung“, sagte Calmbach. Viele erschienen deshalb wie „Mini-Erwachsene“. Allerdings bedeute die Besinnung auf traditionelle Werte wie Sicherheit, Freundschaft oder Familie keinen Zulauf für klassische traditionelle Milieus. Viele Jugendliche würden einen bunten Werte-Mix leben, so Calmbach: „Sie wollen hart feiern und hart arbeiten, wollen sowohl eine Familie gründen als auch erfolgreiche Karriere machen“.

Eltern, Schule oder gar die Kirche? Glaubt man der neuen Sinus-Studie, so haben diese Instanzen heute als Vorbilder für viele Jugendliche so gut wie ausgedient. „Diese klassischen Sozialisationsagenturen können ihnen oft nicht mehr das passende Rüstzeug mit auf den Weg geben“, sagte der Sozialwissenschaftler Marc Calmbach. Die Jugendlichen orientierten sich heute eher an ihresgleichen, an ihrer „Peer-Group“; – und an den Medien, etwa an Rap-Musikern wie Sido oder Bushido. Die Jugendlichen entfernten sich „friedlich“ vom Elternhaus, sagen die Forscher. Keine Rebellion, kein Protest. Aber eben doch die – oft schon sehr frühe – Suche nach dem eigenen Weg.

Wissenschaftler: "Studie ist psychologisch repräsentativ"

Das Spektrum dieser Wege ist heute schon innerhalb einer Schulklasse so vielfältig, dass der Überblick schwer fällt. Sieben verschiedene „Lebenswelten“ haben die Forscher des Sinus-Instituts identifiziert, nachdem sie 72 intensive Interviews mit Jugendlichen aus dem ganzen Bundesgebiet und aus allen Schulformen samt schriftlicher Stellungnahmen ausgewertet hatten – je nach Bildungsgrad und Wertorientierung, von traditionell bis modern. Natürlich sei diese Stichprobe nicht „statistisch repräsentativ“ sagt Calmbach. Aber für eine qualitative Studie sei sie „außergewöhnlich hoch“ und allemal „psychologisch repräsentativ. Wir hätten auch mit 30 weiteren Befragten keine besseren Aussagen bekommen“, betonte der Wissenschaftler.

Auch wenn viele Mädchen und Jungen ihr Eltern offenbar nicht als direkte Vorbilder sehen – ihre Lebensmodelle lehnen sie nicht ab. Partnerschaft und Familie haben selbst viele der befragten 14- bis 17-Jährigen schon fest im Blick, inklusive der damit verbundenen Probleme: „Viele Jugendliche nehmen wahr, dass es schwierig sein wird, den richtigen Zeitpunkt für die Familienplanung zu erwischen“, sagte Calmbach. Oft schlecht bezahlte, wechselnde und befristete Jobs verbreiteten Unsicherheit.

Den immensen Druck auf die Jugendlichen müsse die Gesellschaft senken, forderte Dirk Tänzler, Vorsitzender des Bundesverbands der Deutschen Katholischen Jugend, einem der Mitherausgeber der Studie. „Manche Jugendliche meistern diesen Druck, aber viele scheitern“, so Tänzler. „Wir wollen das aufbrechen. Jugend braucht mehr Freiräume, Jugend hat einen Wert an sich.“

Kirche hat aus Sicht vieler Jugendlicher ein Image-Problem

Sorgen müssen sich nach der Sinus-Studie die Kirchen machen, da nehmen die Wissenschaftler trotz katholischer Auftraggeber kein Blatt vor den Mund. Nur für die konservativ-traditionellen Jugendlichen – eine der sieben „Lebenswelten“ – sind die Kirchen in ihrer verfassten Form überhaupt wichtig. Andere lehnen sie komplett ab, wenngleich Glaubensfragen und Sinnsuche für alle ein Thema ist.

„Die Befunde sind nicht neu, aber sie verstetigen sich“, sagt der Vorsitzende des Bundes der Deutschen Katholischen Jugend, Dirk Tänzler. „Wir sehen mit Sorge, dass die strukturierte Kirche für viele Jugendlichen ein Image-Problem hat.“ Um so wichtiger sei es, dass die Kirche weiter „Raum für Experimente“ biete, um möglichst viele Jugendliche zu erreichen. Der Papst jedenfalls, so Calmbach, der bei einer früheren Umfrage 2007 noch von einigen Jugendlichen als Vorbild genannt wurde, „tauchte jetzt in keinem einzigen Interview mehr auf“.

Experten sehen Handlungsbedarf für Schulen und Bildungsträger

Weitere Herausgeber der qualitativen Studie, die auf Basis von intensiven Interviews und schriftlichen Statements mit Jugendlichen aus 15 deutschen Regionen – unter anderem Dortmund, Köln und Aachen – und allen Schulformen erstellt wurde, sind die Deutsche Kinder- und Jugendstiftung, die Bundeszentrale für Politische Bildung und das kirchliche Hilfswerk Misereor. Heike Kahl, Geschäftsführerin der Deutschen Kinder- und Jugendstiftung, sieht in der Studie vor allem Handlungsbedarf für Schulen und andere Bildungsträger: „Die Pädagogen müssen ihre Haltung ändern“, sagte sie angesichts der sehr unterschiedlichen Bedürfnisse der Jugendlichen in den verschiedenen Lebenswelten, „einen einheitlichen Lernstoff kann es nicht mehr geben“.