Rügen. Die Helfer auf der Ostseeinsel Rügen haben die Suche aufgegeben. 20 Stunden nach dem Felssturz auf Rügen gibt es keine Hoffnung mehr für verschüttetes zehnjähriges Mädchen. Regen und Sturm haben ihnen die Arbeit enorm erschwert. Zudem drohen neue Risse an der Kreidewand.

20 Stunden nach dem Drama künden nur noch rot-weiße Absperrbänder und Massen an Geröll von der Katastrophe an der nördlichen Spitze Rügens. Wieviel Kubikmeter Schlamm, Mergel und Kreide die 160 Rettungskräfte in ihrem 20-stündigen Kampf um das Leben der zehnjährigen Kathy bewegt haben, mag keiner am Dienstagmittag sagen.

Gegen 11.30 Uhr geben die erschöpften Retter auf. „Die Chancen gehen gen null, das Mädchen lebendig zu finden“, erklärt Ernst Heinemann, Bürgermeister der kleinen nördlichen Gemeinde Putgarten. „Die technischen Möglichkeiten sind ausgeschöpft“, sagt Lothar Großklaus, stellvertretender Landrat des Kreises Vorpommern-Rügen.

Rückblende: Am Mittag des zweiten Weihnachtstages startet Anett N. mit ihren beiden Töchtern Hannah (14) und Kathy (10) zu einem Strandspaziergang rund um das Kap Ankona. Zerklüftete Felsen links, die tosende Ostsee rechts. Das Schild „Betreten auf eigene Gefahr“ passiert das Trio. An mögliche Küsten- und Kreideeinbrüche, von denen in den letzten acht Jahren immerhin 15 gezählt wurden, denken sie scheinbar nicht. „Man darf die Leute nicht verunsichern“, sagt Professor Ralf-Otto Niedermeyer, Geologe am Landesamt für Umwelt und Naturschutz in Mecklenburg-Vorpommern (LUNG). „Es ist nicht so, als ob an der Küste überall der Tod lauert.“

Zur falschen Zeit am falschen Ort

An diesem Weihnachtsmittag kommt er tosend. Gegen 15.27 Uhr lösen sich aus der etwa 40 Meter hohen Steilwand plötzlich „riesige Massen“, so die Pressesprecherin des Landkreises Rügen, Carina Schmidt. Sie brechen herunter und begraben die zehnjährige Kathy unter sich.

Mutter Anett N. wird schwer-, ihre ältere Tochter Hannah leicht verletzt in eine Klinik eingeliefert. „So schrecklich es klingen mag“, sagt Niedermeyer, „die Familie war zur falschen Zeit am falschen Ort.“

„Küstenabbrüche sind nicht verhinderbar“, erklärt auch Martin Meschede, Geologe an der Universität Greifswald. „In dem weichen Material der Kreidekalke auf Rügen wird viel Wasser gespeichert.“ Gerade in der jetzigen wasserreichen Zeit wirkt das Wasser wie Schmierseife, und große Blöcke können sehr leicht abrutschen“. Keine gute Zeit, um unter der Steilküste oder entlang der Kliffkante zu wandern.

Ein Viertel der Küste Rügens ist von Einsturz bedroht

Achtung ist hier aber eigentlich immer geboten. 2009 haben die Geoforscher Andreas Günther von der Bundesanstalt für Geowisschenschaften und Rohstoffe und Christine Thiel vom Leibniz-Institut für angewandete Geophysik einen zehn Kilometer langen Küstenstreifen des Jasmunder Kliffs untersucht. Ein Viertel der Küste sei akut vom Einsturz bedroht schreiben sie danach in einem Aufsatz im Fachblatt „Natural Hazards an Earth System Sciences“.

Ein „Naturschicksal, was hinzunehmen ist“, nennt es Niedermeyer. Meschede vergleicht es mit einem Erdbeben. Von der Unmöglichkeit der Vorhersagbarkeit betrachtet.

„Die Menschen müssen sich der Gefahr bewusst sein“, mahnt er. Und rät: an steilen Küstenabschnitten nach oben schauen und nicht nur aufs Meer. Sobald Steinchen aus dem Sediment bröckeln, weglaufen. Von einer generellen Sperrung der Strände, die auf politischer Ebene nach dem Drama vor Kap Ankona erneut gefordert wird, halten die Wissenschaftler wenig.

Neue Risse an derAbbruchstelle

„Realistisch betrachtet, ist sie nicht durchsetzbar“, sagt Meschede. Ein solches Verbot müsse überwacht und kontrolliert werden. Und vor allem: Das Gefahrenpotenzial muss erkannt werden. Auf der Gefahrenkarte, die das LUNG („www.lung.mv-regierung. de“) für Rügen erarbeitet hat, sei das Gebiet vor Kap Ankona, wo vorgestern die kleine Kathy unter Geröllmassen vergraben wurde, noch gar nicht als gefährdet verzeichnet.

Die Natur scheint unberechenbar zu sein: Denn die Retter haben gestern um 11.30 Uhr ihre Suche nach Kathy auch aufgegeben, weil sie neue Risse oberhalb der Abbruchstelle entdeckt hatten. Kreis-Sprecherin Carina Schmidt: „Bei Windstärke neun und starkem Regen hatten wir Angst, dass weitere Brocken abstürzen würden.“