Essen. Historiker entziffern einen antiken Papyrus aus dem Nahen Osten und enthüllen erstaunliche Details über die römische Rechtsprechung.

Vor fast zwei Jahrtausenden wurden im römischen Judäa Verbrechen verübt, die nun wieder ans Licht kommen. Ein kürzlich entschlüsselter Papyrus, der bereits in den 1950er Jahren in Israel entdeckt wurde, enthüllt nicht nur die Feinheiten der römischen Rechtsprechung, sondern auch die Geschichten von Betrug, Fälschung und anderen schwerwiegenden Verbrechen. Ein spannender Blick auf eine längst vergangene Zeit, der auch heute noch überrascht. Der in Griechisch beschriebene Papyrus, der sich jetzt als spannender True-Crime-Fall entpuppt, sorgt für großes Aufsehen.

Bereits in der Vergangenheit haben berühmte Funde wie die Qumran-Schriftrollen oder antike Schwerter und Lanzen gezeigt, dass die Wüste Judäas alles andere als ein friedlicher Ort war. Im Gegenteil: Vor Jahrtausenden diente sie als Rückzugsort für Rebellen, Gesetzlose und religiöse Gemeinschaften. Archäologische Entdeckungen belegen die jüdischen Aufstände gegen die römische Herrschaft zwischen 70 und 136 n. Chr., als Judäa eine römische Provinz war.

In dieser Zeit unterlag Judäa römischem Recht, als offizielles Zahlungsmittel dienten römische Münzen, und die Provinz war zur Steuerabgabe an Rom verpflichtet. Der in den 1950er-Jahren in der Wüste Judäas entdeckte Papyrus stammt genau aus dieser Epoche und erweist sich als bedeutendes historisches Zeugnis. Er gewährt faszinierende Einblicke in die damalige Lebenswirklichkeit.

Archäologen sprechen Klartext: Was sie dem fast 2000 Jahre alten Papyrus entnehmen können

Der wiederentdeckte, rund 1900 Jahre alte Papyrus wurde nun von Archäologen entziffert und übersetzt. „Dieser Papyrus ist außergewöhnlich, denn er gibt uns direkte Einblicke in die Vorbereitung einer Gerichtsverhandlung in diesem Teil des römischen Reichs“, sagten Anna Dolganov von der österreichischen Akademie der Wissenschaften und ihre Kollegen gegenüber dem Wissensmagazin „Scinexx“. Die antiken Schriften dokumentieren ein Gerichtsverfahren gegen mehrere Kriminelle und stellen einen einzigartigen Beleg für die römische Rechtsprechung dar, betonen die Forschenden.

Der Papyrus umfasst insgesamt 133 Zeilen, die in mehrere Abschnitte gegliedert sind. Der erste Teil enthält handschriftliche Notizen eines Staatsanwalts – vermutlich eine Art Strategiepapier zur Vorbereitung auf den Prozess und die bevorstehende Argumentation vor Gericht. Der zweite Abschnitt offenbart die spannendsten Details: Hier sind zentrale Aspekte des Gerichtsfalls festgehalten.

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Antike Anklageschrift belegt: Steuerhinterziehung war auch damals kein Kavaliersdelikt

Was verrät uns der beschriebene Papyrus? Laut den übersetzten Schriften standen zwei Männer, Gadalias und Saulos, zusammen mit mehreren Komplizen vor Gericht. Die Anklagepunkte wogen schwer: Steuerhinterziehung, Dokumentenfälschung und Betrug. Zudem soll einer der Angeklagten einen Sklaven unter falschen Angaben gekauft, freigelassen und dabei Steuern umgangen haben. Saulos wurde zusätzlich der Münzfälschung beschuldigt.

Besonders brisant: Gadalias galt als Wiederholungstäter. Die Ankläger betonten, dass er bereits wegen Raub, Gewaltverbrechen, Geldfälschung, Erpressung und sogar Gefängnisausbruches aufgefallen sei. Der Staatsanwalt machte vor Gericht klar: „Gadalias ist ein Mann, der sich leicht kaufen lässt. Lasst euch nicht davon täuschen, dass er der Sohn eines Notars ist.“

Forscher erklären: Warum der Fall nicht nur ein juristisches Artefakt darstellt

Die Forschenden zeigen sich beeindruckt vom historischen Wert dieses außergewöhnlichen Fundes: „Neben dem Fall des Jesus von Nazareth ist dies der am besten dokumentierte römische Gerichtsfall aus Judäa“, erklärt Koautor Avner Ecker von der Hebräischen Universität Jerusalem. Der 1900 Jahre alte Papyrus bietet spannende Einblicke in das römische Rechtssystem und dessen praktische Umsetzung durch die Behörden. Darüber hinaus stellt er ein bedeutendes Zeugnis dar, das die juristischen Argumentationsstrategien, die Zeugenaussagen sowie die Vorgehensweise von Anklage und Verteidigung ans Licht bringt.

Römische Ruinen des antiken Gerasa in Jordanien.
Römische Ruinen des antiken Gerasa in Jordanien, die im Gerichtsfall als einer der Handlungsorte erwähnt werden. © iStock | benedek

Der antike Gerichtsfall reicht über das bloße Strafmaß hinaus – er spiegelt die explosive politische Stimmung jener Zeit wider. Die Forschenden vermuten, dass die Verhandlung unmittelbar vor dem jüdischen Bar-Kochbar-Aufstand gegen die römische Besatzung stattfand, da den jüdischen Angeklagten auch die Anstiftung zum Aufruhr vorgeworfen wurde. Laut den Schriften schlossen sie sich während eines Staatsbesuchs von Kaiser Hadrian im Jahr 130 n. Chr. antirömischen Bewegungen an. „Ob sie wirklich an der Rebellion beteiligt waren, bleibt offen“, betont Dolganov und fügt hinzu: „Aber die Unterstellung solcher Aktivitäten zeugt von der aufgeladenen Atmosphäre jener Zeit.“

Dokumentenfälschung und Steuerhinterziehung: Welche Strafen drohten den Angeklagten?

Da der Papyrus abrupt endet, bleibt das Schicksal der Angeklagten im Dunkeln. Ob sie mit einer milden Strafe davonkamen oder ein drastisches Urteil erhielten, bleibt Spekulation. Doch die Forschenden vermuten gravierende Konsequenzen: „Die Strafen für die Fälschung von Dokumenten und ihre Nutzung waren schwerwiegend und reichten von Enteignung und Exil bis zur Zwangsarbeit in den Minen oder sogar der Todesstrafe“, erklären sie. Selbst Steuerbetrug konnte bereits schwere finanzielle Folgen haben, einschließlich hoher Geldstrafen und der Beschlagnahmung des gesamten Besitzes. Welche dieser Strafen Gadalias, Saulos und ihre Komplizen tatsächlich trafen, bleibt jedoch ein ungelöstes Rätsel.

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„Dieses Dokument bietet uns einen einzigartigen Einblick in die Arbeit der Behörden und Gerichte in den römischen Provinzen des Nahen Ostens“, schreiben Dolganov und ihre Kollegen. „Gleichzeitig gibt uns der Papyrus Aufschluss über eine kulturelle und intellektuelle Umgebung, in der sich römisches Recht, griechische Rhetorik und jüdisches Leben überschnitten.“ 

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