Berlin. Was passiert, wenn ein manövrierunfähiger Öltanker wie die „Eventin“ auf der Ostsee treibt? Ein Experte verrät, was dann getan wird.

Der Öltanker Eventin sorgte am zweiten Januarwochenende 2025 für Schlagzeilen: Das havarierte Schiff mit fast 100.000 Tonnen Öl trieb stundenlang manövrierunfähig vor Rügens Küste in der Ostsee – die Technik war ausgefallen. Doch wie wird eigentlich ein havariertes Schiff geborgen? Ein Fall für das Havariekommando, die gemeinsame Einrichtung des Bundes und der Küstenländer, die mit maritimem Notfallmanagement betraut ist. Jason Mühlstein ist dort stellvertretender Fachbereichsleiter „Schadstoff- und Schiffsunfallbekämpfung See“ und leitete den Eventin-Einsatz. Hier erklärt der 33-Jährige, wie dabei vorgegangen und wann es gefährlich wird.

Die Eventin war manövrierunfähig. Es hatte kein Leck und ist nicht gesunken. Sprechen Sie bei einer solchen Lage trotzdem davon, ein Schiff zu bergen oder gibt es dafür einen anderen Begriff?

Jason Mühlstein: Grundsätzlich sprechen wir beim Havariekommando auch dann von einer Bergung, wenn ein Schiff nicht untergegangen ist. Ein Schiff wird geborgen, wenn es nicht mehr eigenständig bewegt oder versetzt werden kann – zum Beispiel, weil es auf Grund gelaufen ist oder sich festgefahren hat. Im Fall der Eventin handelte es sich jedoch um einen sogenannten Notschlepp-Einsatz, da das Schiff nicht auf Grund gelaufen war, sondern unter widrigen Bedingungen manövrierunfähig im Meer trieb.

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Was bedeutet „Notschleppen“ genau?

Mühlstein: Es geht darum, unter teils extremen Umweltbedingungen eine Schleppverbindung zum treibenden Schiff herzustellen und dieses zu sichern. Notschlepper kommen dann zum Einsatz, wenn übliche kommerzielle Schlepper aufgrund von Wetterbedingungen nicht mehr arbeiten können. Die speziell ausgestatteten Notschlepper sind eigens für den Einsatz bei Schiffsunfällen auf See konzipiert. In Nord- und Ostsee stehen insgesamt sieben Notschlepper bereit, die vom Bund vorgehalten werden. Vier davon sind sogenannte Mehrzweckschiffe, die unter anderem auch für Brandbekämpfung, Ölbeseitigung und viele weitere Aufgaben genutzt werden können.

Eventin: Einsatzleiter über den Ablauf der Rettung

Wie lief der Einsatz genau ab? Können Sie den Ablauf eines typischen Notschlepp-Einsatzes einmal erklären?

Mühlstein: Ein Notschlepp-Einsatz beginnt beispielsweise damit, dass ein Schiff nicht mehr in der Lage ist, selbständig Kurs zu halten. Gründe dafür sind vielfältig: Es können widrige Wetterbedingungen oder technische Defekte sein, wie auch bei der Eventin. In Deutschland werden solche Notlagen zunächst von den Verkehrszentralen an Nord- und Ostsee bearbeitet. Die Verkehrszentralen überwachen den Schiffsverkehr und koordinieren die ersten Schritte, darunter zum Beispiel das Entsenden von bundeseigenen Notschleppern zu dem havarierten Schiff.

Jason Mühlstein
Wenn ein Schiff Havarie erleidet, ist er im Einsatz: Jason Mühlstein ist seit 2017 beim Havariekommando. © Havariekommando | HAVARIEKOMMANDO

Und wann übernimmt das Havariekommando?

Mühlstein: Wenn die Situation komplexer und dynamischer wird, übergibt die Verkehrszentrale die Einsatzleitung an uns. Wir koordinieren dann Maßnahmen mit allen beteiligten Partnern, wie der Bundespolizei, dem Zoll oder der Wasserstraßen- und Schifffahrtsverwaltung. Unser Ziel ist es, das manövrierunfähige Schiff durch die Notschlepper zu stabilisieren und wieder auf Kurs zu bringen. Dazu setzen wir uns als Havariestab zusammen, planen die Maßnahmen und stimmen uns mit dem Kapitän sowie der Reederei des havarierten Schiffs ab. Grundsätzlich folgt ein Notschleppeinsatz immer dem gleichen Ablauf – nur die Herausforderungen sind oftmals andere.

Einsatzleiter über Notschleppen der Eventin: „Es war herausfordernd“

Was war die größte Herausforderung beim Notschleppen der Eventin?

Mühlstein: Das Wetter war eine zentrale Herausforderung. Bei starkem Wind und hohen Wellen ist es extrem schwierig, die Schleppleine sicher an einem großen Tanker zu befestigen. Auch die Schlepper selbst müssen sich auf See halten können und dabei einen sicheren Abstand zueinander und zum Schiff in Not halten. Zusätzlich muss die enorme Last, die durch die Schleppseile auf das Schiff wirkt, richtig verteilt werden, damit der Einsatz gelingt. Am Freitag bei der Eventin waren es bis zu vier Meter hohe Wellen und es war herausfordernd, Schlepper und Tanker zu verbinden. Am Ende waren immer mindestens zwei Schlepper permanent mit der Eventin verbunden, die den Tanker wieder auf Kurs gebracht haben.

Manövrierunfähiger Öltanker vor Rügen
Zwei Schlepper waren immer im Einsatz, um die Eventin abzusichern. © DPA Images | Stefan Sauer

Welche Faktoren spielen bei einer Notschleppung sonst noch eine Rolle?

Mühlstein: Entscheidend ist die Art des havarierten Schiffs: Handelt es sich um ein Passagierschiff, ein Containerschiff oder – wie in diesem Fall – einen Tanker? Bei Passagierschiffen können zum Beispiel Evakuierungen oder eine größere Zahl von medizinischen Notfällen vorkommen. Eine hilfreiche Orientierung bietet das Emergency Towing Booklet, das alle Handelsschiffe an Bord führen müssen. Es enthält Informationen zu den Befestigungspunkten des Schiffs. Wir versuchen außerdem, schnell mit dem Kapitän Kontakt aufzunehmen, und entsenden, wenn möglich, Einsatzkräfte direkt an Bord. So hat der Kapitän einen direkten Ansprechpartner und die Kommunikation ist leichter.

Öltanker: Das passiert, wenn havariertes Schiff Öl verliert

Die Eventin hatte knapp 100.000 Tonnen Öl geladen. Hat das den Einsatz beeinflusst?

Mühlstein: Ein Notfall für das Havariekommando wird nicht allein durch die Ladung definiert, sondern vor allem durch die Lage, in der sich das Schiff befindet. Natürlich erfordert ein Öltanker besondere Vorsicht. Am Freitag konnten wir schnell klären, dass die Eventin zwar manövrierunfähig war, aber kein Risiko dafür bestand, dass Öl austreten kann.

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Was passiert, wenn tatsächlich Öl austritt oder andere Gefahren auftreten?

Mühlstein: Das Havariekommando ist auf solche Szenarien vorbereitet. Neben dem Notschleppen decken wir auch Bereiche wie Brand- oder Schadstoffunfallbekämpfung ab. Sollte ein Schiff lecken oder brennen, ergreifen wir passende Maßnahmen und rufen zusätzliche Einsatzkräfte wie das Technische Hilfswerk oder die Feuerwehr hinzu. Bei ausgetretenem Öl können wir schwimmende Sperren oder spezielle Schiffe einsetzen, die das Öl mit Pumpen aufnehmen können.

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Am Sonntagabend wurde der Einsatz beendet. Wie entscheidet das Havariekommando, wann ein Einsatz abgeschlossen ist?

Mühlstein: Das hängt von der Einsatzlage ab. Bei der Eventin war klar, dass nach dem erfolgreichen Notschleppen auf Sassnitz Reede keine akute Gefahr mehr bestand. Wir haben daher die Verantwortung wieder an das Wasserstraßen- und Schifffahrtsamt Ostsee übergeben, natürlich in enger Abstimmung mit den Kollegen dort.