Berlin. Seinetwegen mussten Politiker ihren Posten räumen. Warum Journalist Tilo Jung auch der Bundesregierung den Schweiß auf die Stirn treibt.

Die Nervensäge. Na klar. Alle wissen, wer gemeint ist. Dieser Vogel, der die ehrwürdige Bundespressekonferenz seit Jahren aufmischt. Der Irre, der sechs Stunden lang ein Interview mit dem AfD–Krakeeler Maximilian Krah führt. Der Typ, der den Aufenthalt von Andrij Melnyk in Berlin rapide verkürzte. Der ehemalige ukrainische Botschafter hatte eine Spur zu begeistert vom Nationalisten Stepan Bandera gesprochen, womit er die eigene Regierung in Wallung brachte und die polnische und israelische gleich mit. 

Die Nervensäge heißt Tilo Jung, 39. Seit elf Jahren strolcht der frühere Radiopraktikant durchs Regierungsviertel, wobei ihn jede Woche fast eine Million Fans begleiten, auf YouTube, im Podcast, auf X. Finanziert ausschließlich von Spenden unterhält Jung ein Team von sieben Menschen, die sich in einer verwinkelten Dienststelle zwischen Lobbyistenbüros, Charité und Reichstag drängen, um unabhängig und werbefrei den Parlamentsbetrieb zu durchleuchten. Unter dem bambihaften Label „Jung & Naiv“ bereichert der Lackierersohn die Berliner Blase mit einer neuen, alten journalistischen Tugend: Er fragt, fast immer exzellent vorbereitet, manchmal wirklich naiv und gern stundenlang.

Als es um Auslandseinsätze der Bundeswehr ging, verlor sich die Linke Susanne Hennig–Welsow erst im Gestammel und bald ihren Posten als Parteivorsitzende. Der aus der AfD ausgeschlossene Andreas Kalbitz gestand auf dem Grill von Tilo Jung, an völkischen Jugendlagern teilgenommen zu haben. Jung beweist, dass politischer Journalismus mehr sein kann als hirnlose Dreißigsekünder oder Abfragerei, die auf einen skandalisierbaren Halbsatz aus ist. Seine Eltern in Mecklenburg haben bis heute nicht recht kapiert, was der Junge da in Berlin eigentlich treibt. „Pass auf“, hatte ihn seine Oma einst gewarnt.

Dieser Politiker bedankte sich bei Jung für das beste Interview, das je mit ihm geführt wurde

Weder Angela Merkel noch Olaf Scholz mochten sich als Regierungschefs den Fragen des notorischen Duzers aussetzen und selbst Robert Habeck kneift, seit er Minister ist. Dafür hat sich der ehemalige Innenminister Horst Seehofer einst bei Jung bedankt, für das beste Interview, das je mit ihm geführt wurde. Es gehört zu den Absurditäten der digitalen Plattformen, dass Jungs Beiträge etwa von YouTube als weniger attraktives Werbeumfeld definiert werden, was die spärlichen Tantiemen noch mal reduziert. Wellnesstipps sind lukrativer.

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Nervensäge? Tilo Jung lacht. Gefällt ihm. Journalisten, die beliebt sein wollen, haben ihren Beruf nicht begriffen. „Boulevardmedien geben den Menschen, was sie wollen“, schlaumeiert Jung, „Journalismus gibt ihnen, was wichtig ist.“ Der Trick: viel Zeit und noch mehr Neugier. Jung betrachtet das politische Personal zunächst mal erstaunt. Sein schlichter Killersatz „Verstehe ich nicht, erklär‘ mir das?“, hat schon manchen Würdenträger ins Stammeln gebracht.

Im Interview mit dem Youtuber Tilo Jung hatte AfD-Mann Maximilian Krah Platz und Zeit, um über Gott und die Welt zu reden.Foto: YouTube/ Tilo Jung/ Jonas E. Koch
Ein nicht unumstrittenes, sechs Stunden dauerndes Interview: Tilo Jung mit AfD-Politiker Maximilian Krah. © Youtube | Tilo Jung/Jonas E. Koch

Jungs Karriere begann als Experiment. Er hatte BWL und Jura versucht, beim RBB-Medienmagazin von Jörg Wagner gelernt und mit Rohmaterial experimentiert. Während O–Töne normalerweise im Studio veredelt werden, setzte Jung auf ungeschnittene Interviews, weniger aus künstlerischen Erwägungen als aus nackter Not. Er besaß keinen Laptop, mit dem sich Videos schneiden ließen. Die unbehauenen Stücke kamen an. Schon bei Folge 6 rief interessiert das Deutschlandradio an.

Damit beeindruckt Tilo Jung alte Kollegen

Jung konnte gut ins Mikrofon reden, zeigte aber seltsame Sprechhemmungen, sobald eine Kamera auftauchte. Um die Stotterei zu bekämpfen, ließ er die Kamera so oft wie möglich laufen – die YouTube–Therapie. Jung und ein Gast unterhielten sich über politische Themen. Schnell meldete sich ein junger TV–Sender. Es folgten ein Grimme–Preis sowie eine Nominierung für den Deutschen Fernsehpreis. Um dauerhaften Zugang in den Bundestag zu bekommen, wurde Jung Mitglied in der Bundespressekonferenz, wo Reporter oft nur lauerten, um belanglose Sätze einzusammeln.

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Er guckte sich die seltsame Veranstaltung eine Weile staunend an und machte schließlich mit. Mit Tilo Jung kam die angestaubte Arena plötzlich wieder zu Glanz. Vorbei das ritualisierte Frage-Antwort-Spiel, weil sich der junge Kollege nicht abwimmeln ließ. Gestandene Kollegen, die zu Tisch wollten, waren genervt, aber auch beeindruckt, weil Jungs Bohrerei bisweilen spannende neue Informationen freilegte. 

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Ist Jung das Herz des Medien-Startups, dann ist Hans Jessen, 75, das Hirn. Jessen war lange bei Radio Bremen, dem Kreativzentrum der ARD, wo auch Jan Böhmermann anfangs rumorte. Nach einigen Jahren im Hauptstadtstudio ging Jessen mit einiger Beklommenheit in Rente. Das Aufgeregte und Atemlose der neuen Medienwelt bereitete ihm Sorgen. Dann traf er Tilo Jung, halb so alt, aber mit einem ähnlichen Bild vom mündigen Bürger im Kopf.

Tilo Jung: Das ist die Pflicht der Bürger

Beide finden, dass man erwachsenen Menschen längere, komplexere und relevantere Stücke vorlegen kann, ohne KI–Schnickschnack und Gewinnspiele. Jung und Jessen betrachten Demokratie nicht nur als Bringschuld der Politik, sondern auch als Holpflicht der Bürger: Bilde dir deine Meinung. Wir sorgen für die Faktengrundlage.  

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„Lernprovokation“, nennt der lupenreine Achtundsechziger Jessen den Ansatz: „Tilo ermutigt Menschen, sich tief in ein Thema hineinzubegeben“, völlig unabhängig von Klicks, Quoten oder Controllern, die Journalismus als Kostenposten begreifen. Eine solide Demokratie, findet Jessen, braucht mehr als Talkshow und Sofa. Politiker seien derart in Sprechblasen gefangen und von nervösen Schranzen umstellt, dass ein echtes Gespräch nur zustande kommen kann, wenn der Moderator irritiert. „Wenn man im Gefolge die Hände überm Kopf zusammenschlägt, dann wissen wir, dass wir auf dem richtigen Weg sind.“

Zur Bundestagswahl wünscht sich Jung härtere Debatten im Fernsehen. Keine Wischiwaschi-Talks mit einem halben Dutzend vercoachter Kandidaten, sondern zwei Teams, die nach den harten Regeln der Oxford Union zu einem Thema antreten, ob über Vermögenssteuer, Migration, Bildung. Auch hier schließt Jung an alte Erfolgsformate an. Die Älteren erinnern sich an „Pro und Contra“, vor fünfzig Jahren von Emil Obermann moderiert. „Einfach wieder auflegen“, findet Jung. Naiv, aber richtig.