Essen.. Krailling, Langelsheim, Bodenfelde; aber auch die Schicksale von Kevin und Lea-Sophie – Expertin Theresia Höynck erklärt, wie es zu Kindsmorden kommt, was die mediale Berichterstattung bewirkt und warum man die Kinder nie komplett schützen kann.

Krailling, Langelsheim, Bodenfelde, aktuell der Fall Dennis; aber auch die Schicksale von Kevin und Lea-Sophie – in unserer Wahrnehmung scheinen die Fälle der Tötungsdelikte an Kindern zuzunehmen. Ein Trugschluss?

Theresia Höynck: Es spricht alles dagegen, dass die Fälle zunehmen. Es gibt letztlich nur die Daten aus der polizeilichen Kriminalstatistik, die die Zahl der Opfer in bestimmten Altersgruppen, also auch die der Unter-Sechsjährigen, ausweist. Da bleiben die Zahlen in den vergangenen 15 Jahren mit gewissen Schwankungen stabil.

Welche Rolle spielt die Berichterstattung in den Medien für die Wahrnehmung von Kindstötung?

Höynck: Die öffentliche Aufmerksamkeit ist viel, viel höher als früher. Dazu hat die Entwicklung der Medienlandschaft beigetragen. Es wird mehr berichtet, und zwar in den unterschiedlichen Stadien: über die Entdeckung der getöteten Kinder, über den Beginn der Ermittlungen, über Ermittlungsergebnisse und über die Aufnahme des Verfahrens. Auch über Fälle im Ausland wird berichtet. In der Wahrnehmung erzeugt das das Gefühl: ,Was? Schon wieder ein totes Kind?’ Neben der medialen Aufmerksamkeit wird natürlich auch politisch Einiges aufgegriffen. Das trägt dazu bei, dass man den Eindruck hat, solche Fälle wären mittlerweile fast täglich.

Und ist die mediale Aufmerksamkeit gut, damit neue Opfer verhindert werden können, oder schlecht?

Höynck: Das ist je nach Delikt unterschiedlich. Es gibt Delikte, bei denen man Nachahmer-Taten befürchtet, etwa bei Amokläufen. Dazu gehören Tötungsdelikte an Kindern meines Erachtens in aller Regel nicht. Wenn wir über Tötungsdelikte an Kindern unter sechs Jahren reden, sprechen wir so gut wie ausschließlich über innerfamiliäre Delikte, die meist von den Eltern begangen werden. Da geht es in aller Regel nicht um die große öffentliche Aufmerksamkeit, sondern um private Nöte und Konflikte. Öffentliche Aufmerksamkeit kann hier aber auch gut sein, damit ein Bewusstsein entsteht, für Situationen, in denen Kinder gefährdet sind.

Sie haben für das wissenschaftliche Projekt „Tötungsdelikte an Kindern“ das Verhalten verurteilter Täterinnen und Täter erforscht. Welche Gründe gibt es für Kindstötung?

Höynck: Bei psychischen Erkrankungen haben die Täter keinen rationalen Grund für die Tötung. Die Menschen sind meist verzweifelt, wissen nicht, wohin oder leben in einer wahnhaften Welt. Sie können es im Nachhinein nicht erklären, warum sie dachten, sie könnten so nicht weiterleben. Diese Menschen wägen ja nicht in Ruhe ab, ob der die Tötung des Kindes eine gute Lösung ist oder nicht. Diese Tötungen aufgrund psychischer Erkrankungen passieren in ganz normalen Familien.

Wie etwa in Goslar, wo in einem großen Einfamilienhaus plötzlich zwei Mädchen von ihrer Mutter getötet werden?

Höynck: Ganz genau. Es geht nicht um objektive Notlagen, sondern um subjektive Gefühle bzw. psychische Erkrankungen. Um Verstrickung und Verzweiflung, und nicht darum, dass es objektiv keine Lösung für das Problem gibt.

Und dann gibt es noch die Tötungen von Kindern, bei denen die Opfer schwer misshandelt werden. Wo ist der Unterschied?

Höynck: Da hat die Tat meist eine völlig andere Dynamik. Schwere Misshandlungstötungen sind typischerweise assoziiert mit sehr schwierigen Lebenslagen mit großem sozio-ökonomischem Druck, also mit komplizierten Biografien und gewaltbelasteten Beziehungen in so genannten Multi-Problem-Milieus. Bei Misshandlungsdelikten sind häufig auch die Väter oder die Partner der Mutter beteiligt. Die Täterinnen und Täter haben hier oft eine eigene Geschichte, die können wir uns gar nicht vorstellen. Es verwundert nicht, dass sie mit der Erziehung ihrer Kinder überfordert sind. Sie sind vielfach bindungsgestört, deuten kindliches Verhalten fehl, wenden drakonische Strafen an oder neigen gar zu sadistischen Strafen. Auch diese Menschen stehen nicht morgens auf und überlegen sich: Wie bringe ich mein Kind um?

Keine Monster-Mütter

Man darf sich auch diese Täter nicht als Monster-Mütter oder -Väter vorstellen. Viele wollen gute Eltern sein, wissen aber nicht, wie das geht. Dazu kommen finanzielle Nöte, Alkoholmissbrauch, keine Gesprächspartner oder fehlende Unterstützung. Das ist häufig eine Verkettung furchtbarer Umstände.

Wie kann man denn die Kinder besser schützen?

Höynck: Es gibt im Kleinen jede Menge, was man tun kann, kleine Schräubchen, die gedreht werden sollten oder müssten. Es wäre jedoch zu einfach, den Jugendämtern zu sagen, sie müssten einfach ein bisschen besser hingucken.

Ich wünsche mir mehr Wissen über die Problemfelder, um die Prävention voranzubringen, etwa bei den Neugeborenen-Tötungen. Nur wenige wissen, dass es so etwas wie verdrängte Schwangerschaften gibt, die bis zum Schluss versteckt werden. Dabei sind etwa ein Drittel der Kindstötungen Neugeborenentötungen. Es wäre ungeheuer wichtig, da aufmerksamer zu sein. Das gilt etwa auch für Ärzte, die unter Umständen übersehen, dass ihre Patientinnen schwanger sind. Wissen über diese Begebenheiten könnte ein kleiner Baustein sein, Kindstötung im Vorhinein zu verhindern.

Was können Politiker, kann der Staat tun?

Höynck: Manches in der Debatte um Kindstötung ist Aktionismus. Und der erzeugt Handlungsdruck, weil die Illusion geweckt wird, man könne alle Fälle verhindern. Die Wahrheit ist: Es geht nicht. Viel Engagement ist gut und richtig. Auch die Jugendämter zu stärken, ist gut und richtig. Die Aufmerksamkeit bei depressiven Erkrankungen auch auf eine mögliche Fremdgefährdung zu richten, ist notwendig. Schließlich kommen sogar nahe Angehörige in einigen Fällen im Traum nicht darauf, dass eine Kindstötung möglich wäre – schließlich haben die Mütter, die sie kennen, ihren Kindern nie zuvor etwas angetan.

Ich meine: Eine öffentliche Sensibilisierung ist gut, verstärkt aber auch den Druck auf diejenigen, die sich damit befassen. Wenn man alles umsetzten würde, von dem bekannt ist, dass es nützlich sein kann, wäre schon viel gewonnen. Hektische Schnellschüsse schützen Kinder nicht.