Emden. Der Fall bewegte ganz Deutschland: Vor einem Jahr wurde die elfjährige Lena in einem Parkhaus im niedersächsischen Emden getötet. Die Suche nach dem Täter wurde begleitet von Lynchaufrufen gegen Unschuldige. Ermittlungspannen verzögerten die Verhaftung des echten Täters.
In Gedanken lebt Lena weiter. Die Erinnerung an das Mädchen ist in der ostfriesischen Stadt Emden nie verblasst und wird in diesen Tagen wieder allgegenwärtig. Vor einem Jahr wurde die Grundschülerin brutal ermordet. Die Suche nach dem Täter, Ermittlungspannen der Polizei und Lynchaufrufe gegen Unschuldige elektrisierten die Menschen bundesweit. Heute ist in Emden wieder Ruhe eingekehrt. Das soll auch am ersten Jahrestag des Verbrechens so bleiben. Gedenkveranstaltungen sind aus Rücksicht auf die Angehörigen nicht geplant.
Am 24. März 2012 ist die Welt in Emden zunächst noch in Ordnung. Es ist der erste Tag der Osterferien. Die Frühlingssonne scheint. Einige Menschen sitzen unter freiem Himmel in den Cafés. Andere beteiligen sich an der Aufräumaktion "Saubere Stadt" und sammeln achtlos weggeworfenen Müll ein.
Lena stirbt in einem Parkhaus
Am frühen Abend wird die Stille jäh beendet. Mitten in der Stadt wird ein Mädchen ermordet. Tatort ist ein Parkhaus, das nur wenige Meter von Polizei, Hauptbahnhof und Kino entfernt liegt. Es beginnen drei Wochen, die von Hetze, Pöbel, Fehlern, Scham, Trauer und Entschuldigungen gekennzeichnet sind.
Die Polizei steht unter enormem Ermittlungsdruck und verhaftet einen 17-jährigen Verdächtigen, der später als unschuldig wieder freigelassen werden muss. Er und weitere vermeintliche Verdächtige werden über soziale Netzwerke im Internet an den Pranger gestellt. Die Hetzjagd gipfelt in Lynchaufrufen. Vor dem Emder Polizeirevier versammeln sich etwa 50 Menschen und fordern die Auslieferung des 17-Jährigen. Bei seiner Vorführung vor dem Haftrichter springen aufgebrachte Jugendliche auf die Zäune und fordern für ihn die Todesstrafe.
Verurteilter Mörder sitzt in psychiatrischer Klinik
Kurz darauf nimmt die Polizei einen 18-Jährigen als dringend tatverdächtig fest. Parallel müssen die Ermittler schwere Fehler eingestehen. Der 18-Jährige hatte sich Ende 2011 wegen seiner pädophilen Neigungen selbst angezeigt. Dem wird aber nicht konsequent nachgegangen. Auch ein richterlicher Durchsuchungsbeschluss für seine Wohnung bleibt unbearbeitet. Als Folge werden gegen insgesamt acht Beamte Disziplinarverfahren eingeleitet. Gegen zwei von ihnen ermittelt auch die Staatsanwaltschaft wegen Strafvereitelung im Amt.
Emden wird in der Öffentlichkeit als Stadt der Gewalt, des Hasses und der Unfähigkeit dargestellt. Gegen dieses Bild, gegen Selbstjustiz und für die Opfer und Betroffenen gehen Mitte April 2.500 Emder auf die Straße. "Ich schäme mich für das, was da geschehen ist", ruft Oberbürgermeister Bernd Bornemann (SPD) ihnen zu.
Der Fall Lena ist juristisch fast abgeschlossen
Ein Jahr später ist der Fall juristisch fast abgeschlossen. Lenas Mörder ist im November vor dem Landgericht Aurich schuldig gesprochen worden, das Mädchen erwürgt zu haben. Der mittlerweile 19-jährige Mann ist auf unbestimmte Zeit in eine psychiatrische Klinik eingewiesen worden. In seiner Urteilsbegründung spricht der Vorsitzende Richter Werner Brederlow zugleich die Strafverfolgungsbehörden von jeglicher Schuld frei.
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Anfang dieses Jahres werden auch alle Ermittlungs- und Disziplinarverfahren gegen Polizisten offiziell eingestellt. Die Untersuchungen hätten bestätigt, dass der Mord auch bei einem anderen Verhalten der zuständigen Polizisten nicht verhindert worden wäre, sagte die Präsidentin der Polizeidirektion Osnabrück, Heike Fischer, erleichtert.
Lena wäre am 14. März zwölf Jahre alt geworden
Noch offen ist allein ein weiterer Prozess wegen Aufrufs zur Selbstjustiz gegen einen 18-jährigen Beschuldigten. Ein weiterer 18-Jähriger, der im Internet zum Lynchmord aufgerufen hatte, ist vom Amtsgericht Emden bereits zu zwei Wochen Dauerarrest verurteilt worden.
Nicht abgeschlossen ist dagegen die menschliche Aufarbeitung der Tragödie. Lenas Familie und die Familie des zu Unrecht beschuldigten und an den Pranger gestellten Ex-Verdächtigen werden weiterhin psychologisch betreut. Vor diesem Hintergrund werde es auch keine Gedenkveranstaltung geben, sagt der Sprecher der Stadt Emden, Eduard Dinkela, auf dapd-Anfrage.
Kirche verzichtet auf Gedenkveranstaltung
Die reformierte Kirche in Emden wird ebenfalls nicht zu einem öffentlichen Gedenken aufrufen. "Lenas Familie braucht Ruhe und keine Dinge, die sie aufwühlen", sagt Pastor Bert Gedenk. Sein Amtskollege Manfred Meyer, der Lena beerdigt hatte, stehe weiter in engem Kontakt zur Familie und betreue sie seelsorgerisch.
Ruhe ja, vergessen nein: Davon zeugen auch frische gelb-rote Tulpen auf Lenas Grab. Zwischen weißen Kieselstein liegen acht kleine Engel aus Glas und Keramik neben einem Windrad mit Scheewittchen-Motiv und bunten Windlichtern. "Ich vermisse dich", "Es bleibt die Erinnerung" oder "Geliebt und unvergessen" steht auf den zahlreichen bemalten Gedenksteinen. Lena wäre am 14. März zwölf Jahre alt geworden. (dapd)