Berlin/Lüdenscheid.. Stellvertretend für mehrere hundert Betroffene klagt Andre Sommer gegen den Schering-Nachfolger Bayer. Er verlangt Akteneinsicht und Schadenseinsatz, weil der Schwangerschaftstest „Duogynon“ für schwere Missbildungen bei Föten im Mutterleib verantwortlich gewesen sein soll.
War das Hormonpräparat Duogynon bis Ende der 70er Jahre Schuld an schwersten Missbildungen von Neugeborenen? Für rund 350 Betroffene, die sich bislang bei dem Lehrer Andre Sommer im Allgäu gemeldet haben, ist die Antwort klar. Sie alle kamen mit Behinderungen wie fehlenden oder missgebildeten Gliedmaßen, offenem Rücken, urologischen Schäden oder Herzschäden zur Welt – nachdem ihre Mütter von ihren Ärzten zuvor den Schwangerschaftstest von Schering (heute Bayer) in Form einer Tablette oder einer Spritze verabreicht bekommen hatten.
Doch bis heute bestreitet der Pharmakonzern einen Zusammenhang und verwehrte bislang auch eine Akteneinsicht. Und ein Auskunftsrecht, urteilten die Richter bereits im letzten Jahr, bestehe für Bayer aufgrund der Verjährungsfrist nicht. Dennoch gibt Andre Sommer nicht auf. Er hat eine Haftungsklage gegen das Unternehmen eingereicht – am Donnerstag, 5. Juli, beginnt der Prozess am Landgericht Berlin.
„Nach mehr als 30 Jahren sollten die Menschen endlich die Wahrheit erfahren. Wir wollen Aufklärung und Gewissheit“, sagte er am Vortag zur WR. „Es kann nicht sein, dass sich Bayer weiterhin auf Verjährung beruft und jede Aufklärung verweigert. Das ist eine Verhöhnung der mutmaßlichen Duogynon-Opfer.“ Neu aufgetauchte Dokumente, die ihm und seinem Anwalt zugespielt worden seien, belegten, dass Schering die Risiken frühzeitig bekannt gewesen seien. Einen früheren Mitarbeiter habe man als Zeuge benannt.
„Das Verhaltensmuster erinnert an Contergan“
„Bayer bestreitet und bunkert“, kommentiert Rechtsanwalt Jörg Heynemann. „Und Bayer verschweigt, dass es in England bereits Ende der 60er Jahre firmeninterne Erkenntnisse gab, die diesen Zusammenhang eindeutig verifizieren.“ Das Verhaltensmuster erinnere an Contergan: „Auf der einen Seite wird alles blind und wider besseren Wissens bestritten, und auf der anderen Seite werden die Opfer verunglimpft. Hat Bayer/Schering aus der Contergan-Affäre nichts gelernt?“
Doch es geht den Geschädigten, die sich zur Initiative Duogynon-Opfer zusammengeschlossen haben, in der Hauptsache gar nicht mal um Entschädigung. Sie wollen vor allem Gewissheit. Wie Carmen Scholz (59) aus Lüdenscheid, deren Sohn 1975 nach einer Duogynon-Spritze ebenfalls mit Missbildungen zur Welt kam. Auch sie hatte nach ihrem Verdacht einmal mit Hilfe eines Anwalts versucht, Auskunft in die Unterlagen von Schering zu erhalten. Das war Ende der 70er Jahre. Vergebens. Jetzt setzt sie all ihre Hoffnungen in das neue Verfahren von Andre Sommer. „Der Druck in der Öffentlichkeit ist viel größer als damals geworden. Ich wünsche mir, dass die Verantwortlichen von Bayer nun zu dem Schluss kommen, dass sie ihr Image nicht weiter schädigen wollen.“
Betroffene blicken nach Berlin
Auch Ira Gerhartz (36) aus Rheinland-Pfalz blickt am Donnerstag mit großer Spannung nach Berlin. Ebenso wie Andre Sommer kam sie mit Missbildungen an der Blase zur Welt, außerdem mit Klumpfüßen und Wirbelsäulenschäden, nachdem ihre Mutter Duogynon nahm. „Ich bin so wütend“, sagt sie. „Ich kann nicht nachvollziehen, dass man uns immer noch mit so viel Ignoranz begegnet.“ Dem Kläger hat sie gestern eine SMS mit guten Wünschen für die Verhandlung heute geschickt: „Irgendwann“, schrieb sie ihm, „muss doch wohl mal die Gerechtigkeit siegen.“