Siegen. Jahrelang hat ein Vater aus Siegen seine Tochter sexuell missbraucht. Jahrelang ahnte die Mutter nichts von dem Verbrechen, das sich in ihrem Haus abspielte. Heute kämpft sie jeden Tag gegen den Schmerz und gegen den Impuls, den Täter umzubringen. Teil 11 unserer Serie "Überlebenskämpfer".

Es gibt Erfahrungen, die ein Mensch kaum überleben kann. Erfahrungen, die schon beim bloßen Erzählen zur Qual werden. Vielleicht haben deshalb so viele Nachbarn und auch manche Freunde sich von Monika Koch* zurückgezogen. Sie konnten die Wahrheit nicht ertragen, diese grausame, monströse Wahrheit. Dass sich der Abgrund manchmal dort auftut, wo man ihn am wenigsten erwartet, in den eigenen vier Wänden, in der eigenen Familie. Dass ein Mann beides sein kann: fürsorglicher Vater und skrupelloser Kinderschänder. Monika Koch aus Siegen lebt seit 19 Jahren mit dieser Wahrheit.

Es geschah immer an den Abenden, an denen ihr Ehemann seine Freunde in die hauseigene Sauna einlud. Angesehene Männer: ein Arzt, ein Rechtsanwalt und ein Bankdirektor. Monika Koch brachte die beiden Töchter noch ins Bett und verließ dann das Haus. „Papa ist ja da“, dachte sie. Die Ehefrauen trafen sich in der Nähe. Während sie gemeinsam töpferten oder kochten, geschah im Haus der Kochs das Unfassbare: Der Vater und seine drei Freunde missbrauchten die ältere Tochter. Wie viele Jahre das Kind das erleiden musste, weiß Monika Koch bis heute nicht genau. Ihre Tochter sagt, dass sie noch im Kindergarten war, als es anfing.

Ein stilles, scheues Kind

Jahrelang sei sie völlig ahnungslos gewesen, sagt sie. Die Komplizen des Ehemannes gingen in ihrem Haus ein und aus. Sie feierten zusammen Geburtstage und waren im selben Kegelclub. „Das macht sich ja niemand klar“, sagt Monika Koch. „Dass das Leben so normal sein kann und trotzdem so etwas Schlimmes passiert.“ In den Abgrund blickte sie zum ersten Mal, als sie sich von ihrem Mann trennte. Die Tochter war damals zwölf Jahre alt. Ein stilles, scheues Kind, nicht so forsch, nicht so selbstbewusst wie die jüngere Schwester. „Dabei habe ich mir nie etwas gedacht“, sagt Monika Koch. „Sie war halt mein Sensibelchen.“

Doch die Tochter wurde immer verschlossener. Sie sackte in der Schule ab, klagte ständig über Kopfschmerzen. Sie leidet unter der Trennung, dachte die Mutter. Sie ging mit ihr zu mehreren Ärzten. Niemand fand etwas. Erst im Krankenhaus vertraute sich das Mädchen schließlich einer Psychologin an. Monika Koch fühlte sich wie betäubt. „Die Wahrheit dringt zuerst nur tröpfchenweise ins Bewusstsein“, sagt sie, „sonst würde man verrückt werden.“ Doch irgendwann war die Betäubung weg. Sie musste schreien oder weinen oder beides gleichzeitig. Seitdem lebt sie mit dieser Wahrheit – und hat sie vermutlich nur überlebt, weil ihre Kinder sie brauchten, wie sie sagt.

"Sie lebt nicht mehr, sie existiert nur noch"

„Ich wusste nicht, wie ich mit meiner Tochter umgehen sollte“, sagt Monika Koch. „Ich hatte Angst, sie unbewusst noch mehr zu verletzen.“ Sie las viele Bücher über Missbrauch, zog um, beseitigte alle äußeren Spuren der Vergangenheit: Fotos des Vaters, Möbel. Doch das Erlebte holt die Tochter immer wieder heim, in Albträumen, bei denen sie sich schreiend im Bett hin und her wälzt. Die Mutter kann dann nur neben ihr sitzen und sie in den Arm nehmen.

Nach einem Selbstmordversuch schmiss das Mädchen mit 15 die Schule. Wie viele Missbrauchs-Opfer flüchtete sie in die Drogenszene, lebte auf der Straße. Heute, mit 31, ist sie in einem Methadon-Programm. Doch die Sucht hat ihren Körper fast völlig zerstört. In psychologischer Behandlung ist sie nicht mehr. „Ich habe das Gefühl, ihr seit Jahren beim Sterben zuzusehen“, sagt Monika Koch. „Sie lebt nicht mehr, sie existiert nur noch. Ihre Seele ist schon lange tot.“

"Verjährungsfrist ist ein Skandal"

Serie Überlebenskämpfer

Die Mutter muss immer wieder weinen, während sie erzählt. Sie ist eine kleine, zierliche Frau, mit blonden, gelockten Haaren. „Eigentlich passte ich auch genau in sein Beuteschema“, sagt sie bitter. Jahrelang konnte sie über das Unfassbare nicht sprechen. „Das musste ich erst wieder lernen, damit ich für meine Tochter kämpfen konnte.“ 2007 hat sie zusammen mit anderen Betroffenen den Verein „Ende des Schweigens“ gegründet. Sie wollen Missbrauchs-Opfern helfen – und aufklären. Monika Koch erzählt ihre Geschichte jetzt in Schulen und Kindergärten. Sie will die Mütter sensibilisieren. „Wenn ich auch nur ein Kind retten kann, hat sich die Arbeit gelohnt“, sagt sie.

Lange Zeit hat sie die Täter nicht angezeigt. Die Ärzte rieten ihr davon ab. Die Tochter sei nicht stabil genug. Als diese schließlich 25 war, wagte das Mädchen den Angriff. "Doch sie wurde nur wieder unerträglichen Demütigungen ausgesetzt", sagt Monika Koch. Mit dem Fall sei ausgerechnet ein Staatsanwalt betraut gewesen, der mit einem der Täter gut befreundet war. Der habe die Beweisaufnahme so lange hinausgezögert, bis die Verjährungsfrist verstrichen sei. „Dass es für diese Straftaten eine Verjährungsfrist gibt, ist ein Skandal“, sagt Monika Koch. „Schließlich können gerade schwer traumatisierte Opfer erst nach Jahrzehnten über die Tat sprechen.“

"Ich darf niemanden richten"

Die Vorstellung, dass ihr Ex-Mann und die anderen Täter weiter in Frieden leben können und vielleicht weitere Kinder missbrauchen, sei für sie unerträglich. Sie sieht immer wieder diese Szene vor sich, von der ihr die Tochter erzählt hat: Wie er das Kind an den Füßen kopfüber aus dem Fenster hält. Wie er droht: „Ich lass’ Dich los, wenn Du nicht mitmachst.“ Oft habe sie mit dem Gedanken gespielt, ihn umzubringen. Sie denkt dann an den Fall Marianne Bachmeier, der Anfang der 80er für Aufsehen sorgte. Bachmeier hat den mutmaßlichen Mörder ihrer siebenjährigen Tochter im Gerichtssaal erschossen. Auch Monika Koch hat damals Verständnis für sie gehabt. „Doch ich weiß jetzt: Es ist viel schwieriger, es nicht zu tun. Zu sagen: Ich darf niemanden richten.“

*Name und Wohnort von der Redaktion geändert

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