München. Waris Dirie über ihre Kindheit, die Verbundenheit zur Natur und ihr Unverständnis für eine Gesellschaft, die nur für den Konsum lebt.
Die gebürtige Somalierin Waris Dirie war eines der bekanntesten Models der 90er. Dann entschloss sie sich, ihre außergewöhnliche persönliche Geschichte in dem Weltbestseller „Wüstenblume“ zu erzählen – und begann einen weltweiten Feldzug gegen weibliche Genitalverstümmelung, wie die 57-Jährige sie selbst erleiden musste. Aus ihrer Biografie wurden ein Film und jetzt ein Musical, das am 5. Oktober Deutschlandpremiere am Deutschen Theater in München feiert.
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Auch wenn sie seit über 40 Jahren in Europa lebt, so hat sie sich in ihrer Lebenseinstellung nie an die westliche Konsumwelt angepasst, wie sie im Interview erklärt. Vielmehr hat sie sich ihre tiefe Verbundenheit zur Natur bewahrt und damit auch eine enorme Energie, die sie auf ihrem einzigartigen Weg vorwärtstreibt.
Waris Dirie: Was sie an Europäern nicht verstehen kann
Ihr Lebensmittelpunkt ist Europa: Sie leben in Wien. Das Musical zu ihrer Lebensgeschichte läuft in Deutschland. Wie viel Zeit verbringen Sie eigentlich noch in der afrikanischen Wüste?
Waris Dirie: Praktisch keine. Sie ist für mein Wohlergehen und Überleben wichtig, aber ich brauche sie nicht körperlich. Denn ich habe meine Fantasie. Ich klinke mich im Geiste einfach aus, und dann bin ich einfach weg. Das ist auch viel besser so. Denn die Wüste hat ja versucht mich umzubringen. Als man mich zwangsverheiraten wollte, bin ich durch die Wüste geflohen und dabei fast draufgegangen.
Sie kamen 1981 nach Europa. Wie wohl fühlen Sie sich hier eigentlich?
Ich mag die Ruhe von Wien und die Wälder im Umland. Aber das Leben in Europa ist voller Stress, denn die Leute wollen immer ganz groß hinaus – und sie wollen alles sofort. Deshalb arbeiten sie rund um die Uhr. Sie wissen die Qualität des Lebens nicht zu schätzen. Es gibt wenig Gemeinschafts- und Familiensinn. Die Menschen können sich nicht entspannen. Und wenn sie alle möglichen Güter angehäuft haben, dann verschwenden sie sie alle. Ich kann das nicht verstehen.
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Und doch ist Europa der Ort, an dem Ihre Weltkarriere begann und wo man auch Ihre Geschichte fürs Kino und jetzt fürs Musical aufbereitete. Wie ist es, wenn man sein eigenes Leben auf der Bühne sieht?
Mich verwundet es, dass die Leute das spannend finden. Denn es ist ja einfach nur ein Leben. Jeder Mensch hat seine persönliche Geschichte, und keine davon ist eigentlich grundlegend verschieden. Aber für mich war das eine sehr verwirrende Erfahrung. Meine Emotionen überschlagen sich dabei. Das würde vermutlich jedem so gehen, der einen Schritt aus sich heraustritt und sich sein ganzes Leben von außen anschaut.
Modeldasein: „Das ist nur eine Rolle“
Ihr Weg vom somalischen Mädchen, das per Zufall zum Supermodel wird, ist allerdings ziemlich ungewöhnlich. Wie haben Sie sich eigentlich seinerzeit an dieses Leben in der Modebranche gewöhnt?
Ich habe dem Ganzen nicht über den Weg getraut. Ich hielt das für den reinsten Unsinn: Ich werde zurechtgemacht, damit ich attraktiv ausschaue, und dafür zahlt man mir Geld. Aber ich habe dann gelernt, damit meinen Spaß zu haben. Ich habe gesehen: Das ist nur eine Rolle, in die ich schlüpfen muss. Letztlich muss man mit allen Aufgaben professionell umgehen. Das habe ich mein ganzes Leben lang gemacht.
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Nein, ich mag es nicht zu shoppen. Das kann ich einfach nicht ertragen. Die Bluse, die ich zum Beispiel jetzt anhabe, ist 20 Jahre alt. Ich habe gestern in meinen Schrank gegriffen und sie herausgeholt. Aber bevor ich groß einkaufen gehe, laufe ich lieber nackt und barfuß herum. Ich bin ein Kind der Natur. Wenn ich Zeit im Wald verbringen kann, reicht mir das aus, um glücklich zu sein. Nur so bleibe ich geistig gesund. Deshalb macht mir auch der Klimawandel so zu schaffen. Schon vor 40 Jahren habe ich ein Zeitungsinterview gegeben, wo ich vor der Zerstörung unseres Planeten gewarnt habe. Aber man hat es nicht für nötig gefunden, das zu drucken.
Aber jetzt sind die Menschen ja für diese Gefahren sensibilisiert.
Ich glaube das nicht. Der Welt ist das alles egal. Das Traurige ist, dass wir alle gesund sein und ewig leben wollen. Aber nehmen nur von Mutter Natur, ohne ihr etwas Gutes zurückzugeben. Hier läuft etwas grundlegend falsch.
Kindheit in Afrika: „Ich weiß, wie es ist, eins mit der Natur zu sein“
Und Ihr Verhältnis zur Natur kommt aus Ihrer Jugend?
Natürlich. Ich bin in der Wildnis aufgewachsen. Ich weiß, wie es ist, eins mit der Natur zu sein. Das Land gibt dir alles, aber es kann dich auch töten. Dieses Bewusstsein hat mir auch meine Stärke gegeben. Das hat mir auch mein Vater beigebracht. Wenn ich als Zweijährige hingefallen bin, hat er mich hochgehoben und wieder auf die Beine gestellt. Es ist in meiner DNA, über Hindernisse zu laufen. Ich tue das ständig, ohne groß einen Gedanken darauf zu verschwenden, wie schwierig das alles ist. Ohne Herausforderungen wird es mir langweilig.
Eine der großen Herausforderungen ist Ihr Kampf gegen die Genitalverstümmelung von Mädchen und jungen Frauen, die Sie auch selbst erlitten. Was sehen Sie da für Lösungen?
Ich würde mir sehr wünschen, wenn ich über dieses Thema nie mehr sprechen müsste, weil es sich erledigt hat. Aber es steht nicht für sich. Mit meiner Stiftung versuche ich die Ausbildung junger Menschen in Afrika zu unterstützen. Denn wenn sie Wissen und Bildung haben, dann ist das die beste Methode, um gegen so etwas wie Genitalverstümmelung anzugehen.
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Sind Sie bei all Ihren Kämpfen eigentlich glücklich?
Was mein eigenes Leben angeht, auf jeden Fall. Ja, man hat mir Schmerzen zugefügt, aber ich habe unzählige schöne Dinge gesehen. Und ich habe eben die Natur. Sie ist meine große Liebe und meine Religion.