Berlin. Die Stadt von morgen soll grüner werden – von oben besehen zumindest. Viele Metropolen weltweit arbeiten an urbanen Kronendächern.
Initiativen in Metropolen weltweit arbeiten an einem urbanen Kronendach. Diese neuen Grünflächen auf Gebäuden haben gleich ein Bündel von Zielen: die City kühlen, Raum für Tiere und Pflanzen schaffen, die Luft verbessern, Obst und Gemüse für die wachsende Stadtbevölkerung erzeugen und zugleich deren Rückzugsort sein. Ganz schön viele Ansprüche an grüne Dächer.
Näher an die Natur soll sie rücken, Hannovers Innenstadt der Zukunft. Mit Bäumen, Beeten und Sitzbänken, wo heute noch Autos parken. Mit Theaterbühnen auf bunten Plätzen, über die heute noch Autos fahren. Und ganz oben: der „City-Roofwalk“, ein Ensemble von Dachgärten quer durch die Innenstadt, die durch Brücken miteinander verbunden werden und so die Stadt von oben erlebbar machen sollen.
Hannover: Vom grauen Stadtbild zur grünen Oase
Wer heute durch Hannover geht, braucht Fantasie, um sich diese grüne Zukunft vorzustellen. Die Stadt hat ein graues Image. Nach dem Krieg für Autos gebaut, wird Hannovers Innenstadt bestimmt von Bürogebäuden aus den 1970er-Jahren, von Parkhäusern und mit farblosen Platten verkleideten Kaufhäusern. Grünes gibt es auf den flachen Dächern der City praktisch nicht und auch am Boden wenig.
Das soll sich ändern: Hannovers Bürgermeister Belit Onay ist 2019 angetreten, die Stadt umzubauen, zum Teil gegen massiven Widerstand von Kaufleuten und der Autolobby. „Wir haben eine riesige ungenutzte Fläche, die wir den Menschen zurückgeben wollen“, sagt er mit Blick auf die bislang grauen Dächer.
Mehr Natur ist in urbanen Räumen dringend nötig. Denn die Städte werden immer heißer. Nach Angaben des Deutschen Wetterdienstes erwärmen sie sich um durchschnittlich drei Grad mehr als im kühleren Umland. In manchen Sommernächten sind es in eng bebauten und stark versiegelten Quartieren sogar bis zu zwölf Grad.
Der Naturschutzbund Nabu sieht schon heute einen deutlichen Rückgang an Biodiversität und fürchtet den Kollaps ganzer Ökosysteme, wenn nicht gehandelt wird. Und auch für die Menschen bräuchte es dringend mehr Grün, damit die Stadt lebenswert bleibt, denn Natur tut dem Körper und der Seele gut.
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Berlin: Grüne Experimentierräume in der Hauptstadt
Die gute Nachricht: Es ist tatsächlich etwas in Bewegung. Tausende Initiativen in Deutschland machen freie Flächen und besonders Dächer zu kleinen Oasen und Experimentierräumen, oft gefördert von den Städten. In München etwa können Mietshäuser, Innenhöfe oder Dachterrassen mit dem Geld der Kommune begrünt werden. Dazu gibt es größere Projekte wie den sogenannten KlunkerGarten auf dem Dach der Neukölln Arcaden in Berlin.
Horstwirtschaft heißt der Verein, den einige Engagierte hier 2016 gegründet haben. „Horst“ steht für das Nest, in dem Ideen wachsen können. Bei Führungen erlebt man, wie ehrenamtlich Gärtnernde heimische Wildpflanzen pflegen, sich um Bienen kümmern, Gemüse und Kräuter ernten und dabei Nachbarschaft entsteht.
Es geht aber nicht nur um ein nettes Miteinander nach Feierabend: Forschende der TU Berlin und des Naturkundemuseums untersuchen hier die Bestäubungsleistung von Insekten auf unterschiedlichen Nutzpflanzen. In einem anderen Projekt werden Bewässerungssysteme für die Hochbeete getestet.
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Und dann sind da noch die Mega-Projekte: Auf den Dächern des Pariser Messegeländes „Paris Expo Porte de Versailles“ wachsen auf mehr als 14.000 Quadratmetern Erdbeeren, Tomaten, Basilikum, Auberginen und vieles mehr, es ist eine der größten Dachfarmen der Welt.
Metropolen weltweit: Dem Auto Raum nehmen
Die Projekte in München, Berlin, Paris und Hannover sind nur beispielhaft für eine Bewegung, die bestenfalls Naherholung, soziales Miteinander und Lebensmittelversorgung verbinden kann. Aber können sie auch die Folgen des Klimawandels eingrenzen und Städte nachhaltig kühlen? Saskia Buchholz erforscht beim Deutschen Wetterdienst die Effekte und Potenziale von grünen Dächern für Stadtquartiere und ganze Städte.
Ihre Studien zeigen: Sind mehr als die Hälfte der Dächer bepflanzt, senkt das die Temperatur in den Quartieren merklich. Dabei genügen einfache, trockenresistente Pflanzen wie Sedum. Auch Starkregen kann den Untersuchungen zufolge zurückgehalten werden. Ziegel- und Metalldächer dagegen heizen bis zu 80 Grad auf und geben die Wärme noch lange an die Stadtluft ab.
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„Jede Stadt sollte ihr Potenzial ausschöpfen“, sagt Buchholz und wirbt für neue Bauvorschriften wie in Bremen, wo Neubauten mit einer Dachgröße von mehr als 100 Quadratmetern bepflanzt werden müssen. Sie betont aber auch: „Dachgrün allein wird den Klimawandel nicht aufhalten.“
Es brauche mehr. Flächen müssten entsiegelt, Bäume gepflanzt werden und Frischluftschneisen aus dem Umland in die Städte entstehen. Es lohne sich auch, kreative Wege zu gehen, wie etwa in Los Angeles, wo ganze Straßenzüge weiß gestrichen wurden, um die Sonneneinstrahlung gleich zurück in die Atmosphäre zu reflektieren. Der Garten auf dem Haus ist die Spitze einer völlig neu gestalteten Stadt.
Wer die Stadt grüner machen will, muss dem Auto Raum nehmen, groß denken. Bogotá öffnet sonntags mehr als 100 Kilometer Straßen nur für Fahrräder und Fußgänger und strebt an, die Welthauptstadt des Fahrrads zu werden. In Paris will Bürgermeisterin Anne Hidalgo die Champs Élysées zurückbauen. Auf der 70 Meter breiten Straße sollen Autos Platz abgeben, stattdessen Parks, Sitzgelegenheiten, Radwege entstehen.
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Klimawandel: Rotterdam als grüner Vorreiter
In Hannover strebt Belit Onay an, die Innenstadt autofrei zu machen und neue grüne Räume für Menschen zu schaffen. Und auf den Dächern könnte es 2024 mit einem Parkhaus in der Altstadt losgehen. 3300 Quadratmeter Natur, die den Beginn markieren sollen für ein ganzes Wegesystem zwischen Dachgärten in der Stadt – so schwebt es Bürgermeister Onay vor.
In Rotterdam ist seine Vision schon zu einem großen Teil Realität geworden. Die niederländische Metropole gilt als Vorzeigestadt für das urbane Dachgrün und hat mit Paul van Roosmalen einen eigenen Projektmanager für multifunktionale Dächer. Hoch oben auf dem Depot des berühmten Kunstmuseums Boijmans Van Beuningen wächst ein imposanter Birkenwald, dazu gibt es Solarzellen, Wasserspeicher und eine Terrasse.
Das Festival der Rotterdamer Dachtage ermöglicht Besucher:innen, über die Dächer des Neubauprojekts „De Groene Kaap“ zu wandern, mit öffentlichen Gemüsegärten und Brücken, die diese in luftiger Höhe miteinander verbinden. „Wir wollen stimulieren, Anreize schaffen“, sagt van Roosmalen.
Es gibt in Rotterdam Subventionen für Dachbegrünung, die Teil eines Förderprogramms für Projekte sind, die die Stadt an den Klimawandel anpassen. Aber finanzielle Unterstützung allein reiche nicht, sagt van Roosmalen. Sein Ansatz: tolle Beispiele schaffen, mit Botschaftern in der Gesellschaft für die Ideen werben – und dann, wenn die Menschen den Sinn erkennen, mit gezielten Vorschriften hin zur Veränderung steuern. Das wirkt: Allein seit 2018 hat sich die Zahl der begrünten Dachfläche in Rotterdam von rund 370.000 auf mehr als 460.000 Quadratmeter erhöht.
Geht es nach van Roosmalen, wird der Wandel erst noch richtig an Fahrt aufnehmen. Die niederländische Regierung arbeitet an einem Umwelt- und Planungsgesetz, das alle bisherigen Stadtplanungsgesetze bündeln soll und 2023 verabschiedet werden könnte. Van Roosmalen hofft, dass dies den Städten mehr Befugnisse geben wird. „Wenn etwas schlecht ist für die Umwelt und für die Gesellschaft, dann müssen wir das verbieten dürfen“, fordert er.
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Klimaschutz: Deutschlands Dächer haben großes Potenzial
Mehr Vorgaben aus der Politik wünscht sich auch Manfred Köhler. Der Landschaftsarchitekt, Ökologe und Umweltplaner forscht seit Anfang der 1980er-Jahre zu grünen Dächern und Fassaden. Das Potenzial sei riesig. „Jedes zweite Dach in Deutschland kann bepflanzt werden“, sagt er. Infrage kämen praktisch alle Flach- und Schrägdächer mit einer Neigung von bis zu 45 Prozent.
Deutschland stehe im internationalen Vergleich besser da, als man denken könnte: Pro Jahr werden laut Köhler 8,5 bis 10 Millionen Quadratmeter Dachfläche bepflanzt. Das sei im Vergleich zu Ländern wie Frankreich oder den USA sehr viel. Und doch sind hierzulande nur etwa drei bis fünf Prozent der Dächer grün. „Es gibt noch sehr viel für uns zu tun“, sagt er.
Das Grün in der Stadt soll die Aufheizung der Metropolen stoppen, Starkregen auffangen, Orte für die Naherholung bieten, die Landwirtschaft aufs Dach bringen. Viele Ziele – und eins wird oft übersehen: „Allein der Blick ins Grüne tut gut“, sagt Köhler. In hochverdichteten Städten wie Singapur sei dieser Effekt gezielt genutzt worden. Man blicke dank vertikaler Gärten auf unzähligen Dächern ständig auf Grün. „Das steigert das Wohlbefinden“, so Köhler.
Tatsächlich hat das Leipziger Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung in einer Studie nachgewiesen, dass Menschen, die Bäume in der Nähe ihrer Wohnung haben, weniger wahrscheinlich depressiv werden. Ein Erklärungsansatz: Unsere Gehirne haben sich in der Natur entwickelt, sie können die Naturreize, anders als die Strukturen und Geräusche der Stadt, leicht verarbeiten. Grün ist also auch ein natürliches Antidepressivum.
Wie kommt dieses Grün nun in die Stadt? Für Paul van Roosmalen aus Rotterdam ist es eine Mischung aus Anreizen und Verboten, das Wichtigste aber sei ein neues Mindset: „Niemand fragt doch: Lohnt sich eine Küche oder ist Take-away die ökonomisch sinnvollere Alternative?“ Die Menschen brauchen die Küche als Ort zum Zusammenkommen, als Ort der gelebten Kultur.
Was Stadtplaner van Roosmalen meint: Es koste Geld, ein grünes Dach zu bewirtschaften. Doch letztlich, ist er überzeugt, steigere es den Wert eines Gebäudes und habe einen Wert für die Gesellschaft, für die Menschen, für die Natur. Seine Forderung: „Das nutzbare, nachhaltige Dach mitzudenken, muss so normal werden wie die Planung einer Küche.“