Mülheim. Die Zahl der Menschen, die sich als transsexuell bezeichnen, steigt. Psychotherapeut Hagen Löwenberg weiß, was erste Anzeichen sein können.
Noch nie war das Thema der Geschlechterdiversität so präsent und vielschichtig wie heute: Angefangen von politischen Debatten über ein drittes Geschlecht bis hin zu Spielzeughersteller Mattel, der jüngst ankündigte, eine geschlechtsneutrale Barbie auf den Markt bringen zu wollen. Seit 25 Jahren berät der Psychotherapeut Hagen Löwenberg (60) in seiner Praxis in Mülheim rund um das Thema Transsexualität. Er gehörte schon 1998 zu den Mitgründern des deutschlandweit ersten interdisziplinären Qualitätszirkels zu Transsexualität an der Uniklinik Essen.
Wie beurteilen Sie die stark wachsende Präsenz des Themas?
Hagen Löwenberg: Die breite gesellschaftliche Diskussion ist für viele, die das Thema betrifft, eine große Erleichterung. In den Anfängen war das Bekenntnis zur eigenen Transidentität für viele Betroffene ein gesellschaftlicher Spießrutenlauf. Viele haben sich lange versteckt, mit entsprechenden psychischen Folgeproblemen. Heute hingegen wird schon in Schulen zu dem Thema aufgeklärt, was zu weniger Mobbing führt. Das alles macht es deutlich leichter, ergebnisoffen die eigene geschlechtliche Identität zu erforschen. Dadurch steigt gleichzeitig natürlich die Zahl derer, die sich eben nicht eindeutig als Mann oder Frau fühlen.
Viele Berichte sprechen von einem Transgender-Trend. Eine Bezeichnung, mit der Sie ein Problem haben?
Ja, da der Begriff der Modeerscheinung oder des Hypes ist abwertend und beleidigend für die Menschen, die es betrifft. Es gibt heute eine queere Jugendbewegung. Das Thema der Transidentität ist bei Jugendlichen viel präsenter als früher. Das ist aber eher eine Frage von Selbstfindungsprozessen als eine Modeerscheinung. Und nicht jeder, der sich mit dem Thema auseinandersetzt, wird sich am Ende für den Trans-Weg entscheiden.
Wollen sich Jugendliche dadurch nicht einfach abgrenzen, so wie es für Heranwachsende üblich ist?
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Es ist weniger ein Abgrenzen als vielmehr ein Hinterfragen von Geschlechter-Stereotypen. In meiner Kindheit etwa sind nicht alle Mädchen in Pink herumgelaufen, das kommt heute deutlich häufiger vor. Die Stereotypisierung hat zugenommen. Gerade diejenigen, die biologisch eher dem weiblichen Geschlecht zugehörig sind, haben immer häufiger ein Problem mit diesen klassischen Rollenbildern haben und können sich damit nur begrenzt identifizieren.
Mit der perfekt geschminkten, vermeintlich weiblichen Inszenierung auf Instagram etwa?
Ich glaube das ist ein Einflussfaktor, ja. Denn grundsätzlich erscheint ja heute alles machbar: Wer sich die Schönheitskliniken in Essen und Düsseldorf anschaut, der wundert sich, wie viele junge Frauen dort auflaufen. Umgekehrt gibt es diejenigen, die sich damit überhaupt nicht identifizieren können und am liebsten sofort eine Umwandlung beginnen wollen. Ich zitiere gern die nigerianische Schriftstellerin Chimamanda Ngozi Adichie. „Das Problem mit Geschlechterrollen ist, dass sie uns vorschreiben, wie wir sein sollen, statt anzuerkennen wie wir sind.“
Die Zahlen der Menschen, die sich als transsexuell bezeichnen, steigen rasant. Wie nehmen Sie diese Entwicklung wahr?
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Auch in meiner Praxis habe ich deutlich mehr Anfragen, was zu längeren Wartezeiten führt. Das hat viel damit zu tun, dass es eine gesellschaftliche Bewegung in diese Richtung gibt. Das Bild heute ist vielfältiger geworden. Früher wurde meinen Patienten in Selbsthilfegruppen noch gesagt, wie sie als transsexueller Mann oder Frau auszusehen und sich zu verhalten haben. Das ist heute zum Glück überhaupt nicht mehr so, das Spektrum ist deutlich größer und die Beratung viel individueller geworden.
Selbst vor Kitas und Grundschulen lässt sich die gesellschaftliche Bewegung beobachten: Tun Eltern ihrem Sohn einen Gefallen, wenn der mit Kleid oder Rock in die Schule geht?
Das kommt darauf an: Wenn es dem Wunsch des Kindes folgt, habe ich da keine Probleme. Wollen die Eltern auf Kosten des Kindes ihre eigene Offenheit inszenieren, so ist das sicherlich der falsche Weg. Grundsätzlich gibt es eine zunehmende Polarisierung in der Gesellschaft. Speziell die LGBT-Themen sind ein Lieblingsfeindbild der Rechten. Deswegen gibt es auf der anderen Seite auch Menschen, die deutlich machen wollen, wie aufgeschlossen sie sind. Das mag manchmal ein wenig albern erscheinen, zeigt aber, dass das Bewusstsein für Transidentität und nicht geschlechterrollenkonformes Verhalten immer mehr in der Mitte der Gesellschaft ankommt.
Was können erste Anzeichen dafür sein, dass mein Kind sich seinem biologischen Geschlecht nicht zugehörig fühlt?
Das deutlichste Anzeichen ist, wenn es das Kind selbst äußerst, was manche früh tun. Dann gibt es noch Hinweise, die man nicht überinterpretieren sollte, die aber ein Anzeichen sein können: Etwa, wenn ein Junge am liebsten mit Mädchen spielt oder umgekehrt. Häufig drängt das Kind auch auf ein Erscheinungsbild, um eher der anderen Geschlechtergruppe zugerechnet zu werden – kurze oder lange Haare etwa. Am wichtigsten ist, den Kindern die Entwicklungsmöglichkeiten zu lassen. Je entspannter Eltern damit umgehen, umso leichter ist es für ihren Nachwuchs. Ich empfehle, weniger Druck auszuüben, sich einem bestimmten Verhalten anpassen zu müssen und vielmehr die Entwicklung einfach zu begleiten.
Macht es diese große Offenheit den Heranwachsenden aber nicht im Umkehrschluss auch noch schwerer, herauszufinden, wer sie sind?
Je freier das Leben ist, umso schwieriger sind die eigenen Selbstfindungsprozesse, das liegt auf der Hand. Früher gab es eher Lebensentwürfe, dass der Sohn einen vorgegebenen Beruf ergreift, heiratet und Kinder bekommt. Das wäre vielleicht der einfachere Weg, der auch viele glücklich macht. Aber eben nicht alle.
Sowohl gesellschaftlich als auch politisch wurde bereits einiges auf den Weg gebracht, um transsexuellen Menschen mehr Selbstbestimmung zu ermöglichen. Was muss sich aus Ihrer Sicht als nächstes ändern?
Jeder sollte selbst über seinen Geschlechtseintrag bestimmen dürfen. Selbst nach 25 Jahren Berufserfahrung mit Trans-Personen kann ich das für niemanden entscheiden, das ist eine reine Sache der Selbsteinschätzung. Jeder Mensch sollte das für sich selbst bestimmen dürfen.