Essen. Nach den Schubser-Attacken von Frankfurt und Voerde beschäftigt die Sicherheit am Bahngleis viele Reisende. Doch die meisten reagieren besonnen.

Viele Pendler meiden dieser Ferientage den Essener Hauptbahnhof wegen der Baustellen entlang der Strecken. Die restlichen eilen routiniert durch die kühle Halle. Bundespolizisten an den Eingängen schauen aufmerksam links und rechts, während sich ein paar Meter weiter vor Backwerk die Junkies für alle hörbar über die nächste Stofflieferung unterhalten. Die Fahrgäste umkurven sie routiniert. Alles wie immer am Essener Hauptbahnhof nach den zwei tödlichen Schubserattacken in Frankfurt und Voerde?

Wenn man das Ohr ans Gleis legt, hört man folgendes.

„Man hat ein ungutes Gefühl“, sagt Katharina P., 59. „Aber wonach soll man sich schon umschauen? Wer ist verdächtig? Jedenfalls habe ich keine besondere Angst, wenn ich Ausländer sehe.“ Die Bahnsteigkante meide sie sowieso, sagt die Sekretärin aus Duisburg – „als Jugendliche schon. Ich mag keine Menschenmengen. Außerdem muss man die anderen ja erst mal aussteigen lassen. Das mach ich übrigens auch an der Bushaltestelle.“

Das Gedränge am Einstieg meiden viele

Ilona Müller aus Hahn.
Ilona Müller aus Hahn. © Michael Gottschalk

„Ich geh aus Prinzip nicht an den Bahnsteig ran“, erklärt auch Ilona Müller, 55, Rentnerin aus Hahn. Das Gedränge! Sie wünscht sich mehr Sicherheitsleute und dass die Leute selbst mehr aufpassen – „und nicht alle Stöpsel in den Ohren haben.“

In Frankfurt hatte am Montag ein 40-Jähriger eine Mutter und ihren achtjährigen Sohn ins Gleisbett gestoßen. Der aus Eritrea stammende Mann lebte seit mehr als zehn Jahren in der Schweiz und war dort bereits zur Fahndung ausgeschrieben, wie am Dienstag bekannt wurde. Er soll eine Nachbarin gewürgt und mit einem Messer bedroht haben. Seine Ehefrau und seine Kinder habe er eingesperrt, erklärte die Bundespolizei. Zudem war er bereits in psychiatrischer Behandlung. In Voerde war eine gute Woche zuvor ein 28-jähriger stadtbekannter Randalierer ausgerastet, am Montag gab die Staatsanwaltschaft bekannt, dass in seinem Blut Spuren von Kokain gefunden wurden.

„Das sind Taten, die sind nicht greifbar“, findet Gabriele R. aus Essen, 61. „Offenbar Kurzschlussreaktionen. Immer mehr Menschen sind durch den Wind“, sagt die Psychotherapeutin. „Aber es nutzt ja nichts, wenn man nur lamentiert. Wir müssen mehr Präventivmaßnahmen anbieten. Viele Leute sind eben traumatisiert.“

„Die Gesetze sind zu lasch“, wirft Oli M., 74, ein, ihre zufällige Sitznachbarin auf der Wartebank.

„Ich bin kein Richter. Alles ist relativ. In Amerika wird gerade die Todesstrafe wieder ausgeweitet. Da bin ich ehrlich gesagt gegen.“

„Die Täter werden ein paar Jahre bekommen und dann sind sie wieder draußen.“

„Mit Strafen macht man keine besseren Menschen. Aus dem Gefängnis kommen viele Geschädigter wieder heraus als vorher.“

„Das kann auch passieren. Die antiautoritäre Erziehung war auch nicht richtig“

Diese Unterhaltung ist durch unsere Umfrage beeinflusst, aber sie zeigt das Spektrum auf, das wir vorfinden. Auch Frank D., 55, der zufällig genau auf der weißen Linie am Gleis steht, springt vom Thema Verbrechen schnell zum Thema Flüchtlinge „Sorry, das ist politisch alles nicht korrekt“ und weiter zur Erziehung. „Man müsste anfangen damit, Kinder wieder vernünftig zu erziehen“, sagt der Trockenbauer. „Die meisten sitzen vorm Computer und ziehen sich Gewaltspiele rein.“

Deutschland ist sicherer geworden

„Deutschland ist ganz schlimm geworden“, sagt ebenfalls Doris P. aus Bottrop, 73. „Abends traut man sich nirgendwo mehr hin. Sogar Männer sagen das. In den 70er und 80er Jahren gab’s das nicht.“ Dieser Eindruck trügt jedoch, wie die Kriminalstatistik zeigt: 2018 gab es in Deutschland 687 Opfer von Mord und Totschlag (davon 386 Mordopfer). Im Durchschnitt der 70er-Jahre lag sie dagegen bei 781 und im Schnitt der 80er bei 861 Fällen jährlich – und diese beiden Zahlen beziehen sich nur auf die alte Bundesrepublik ohne DDR. Die Sicherheitslage ist also sehr viel besser geworden.

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„Es kann passieren, es kann nicht passieren“, sagt denn auch Matthias Kapaun, 54, Pfleger aus Essen. Und findet es „ziemlich sinnlos, sich Gedanken zu machen“ über diese Einzeltaten. – Und die Nachahmer? – „Die gibt’s doch bei jeder Straftat. Seit hundert Jahren.“ Ähnlich rational geht Dietrich Jacobi, 80, an das Thema heran. „Schauen Sie sich die Größenordnungen an: Millionen Menschen fahren jeden Tag Bahn“, sagt der Essener. „So schlimm diese Fälle sind, aber solche Verbrechen lassen sich nicht verhindern. Die Alternative wäre totale Überwachung. Und das will ich nicht.“

„Was kann man sicherheitstechnisch schon machen“, findet ebenfalls Fritz Hußels, Unternehmer aus Köln. „Es gibt ja die Idee, dass man nur Leute mit Fahrkarte auf den Bahnsteig lässt – aber in Berlin zum Beispiel, da wurde das Mädchen die Treppe in einer U-Bahn-Station hinuntergestoßen. Und wenn sie hier alles abriegeln, dann passiert es eben an den kleinen Bahnhöfen, an S-Bahn-Stationen. Gegen Schwachsinnige ist man halt nicht geschützt.“ Dennoch, sagt der 60-Jährige „hat man natürlich schon länger einen wacheren Blick“. Aber das sei unabhängig von den aktuellen Fällen. Hußels denkt dabei eher an Koffer auf Bahnsteigen.

Die Rolle der Medien wird hinterfragt

Monika Schmeel, 67, sitzt zufällig neben ihm. „Ich glaube, ich bin doch vorsichtiger geworden. Aber das hat nicht direkt mit diesen beiden Vorfällen zu tun. Vielleicht hat es eher mit meinem Alter zu tun“, räsoniert die Essenerin. „Ich frage mich auch schon länger, inwieweit ich mich von Medien beeinflussen lasse.“ Wie negatives Denken entsteht, sei gerade ein großes Thema. „Ich schaue aber nicht öfter hinter mich, ich schaue den Leuten lieber ins Gesicht.“

„Den Täter hat man ja erwischt, den würde ich in drei Teile zersägen“, findet Stefan Kühnrich, 59, Staplerfahrer, ehemaliger Seemann und Chormitglied bei den Blauen Jungs in Essen. „Aber überall hat man Idioten. Die Sicherheit ist eigentlich gewährleistet. Mehr Security wäre aber dennoch gut. Es gibt gerade abends viele Pöbeleien, wenn man an Bahnhöfen unterwegs ist, in Bochum noch mehr als in Essen.“

Frederic und Sophie (14 und 17 Jahre alt) aus Wattenscheid.
Frederic und Sophie (14 und 17 Jahre alt) aus Wattenscheid. © Michael GottschalK

„Man guckt so oder so, vor allem an Hauptbahnhöfen“, sagt Sophie Held, 14, aus Wattenscheid. „Wegen Taschendieben und weil ich ein Mädchen bin. Aber vielleicht hält man ein bisschen mehr Abstand zur Bahnsteigkante.“ – „Das versuche ich sowieso“, erklärt ihr Bruder Frederic, 17. „Für den Fall, dass es irgendwelche Idioten gibt, die drängeln oder rennen.“ Die beiden Schubser-Attacken sieht er als Einzelfälle, die durch Nachahmung zusammenhängen. „Das ist eine kleine Welle.“ Und die verebbt auch schnell wieder.